Villenkolonie Lichterfelde-West

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Reklamemarke der Villenkolonie Lichterfelde-West

Die Villenkolonie Lichterfelde-West, auch als Carstenn'sche Villenkolonie bezeichnet, im Berliner Ortsteil Lichterfelde (seit 2001 zum Bezirk Steglitz-Zehlendorf gehörend) wurde als eine der ersten vollständig durchgeplanten Villenkolonien im Deutschen Reich ab 1860 durch den Unternehmer Johann Anton Wilhelm von Carstenn gebaut und ist das älteste Villenviertel Berlins.


Entwicklung

Der Hamburger Unternehmer Johann Anton Wilhelm von Carstenn hatte auf Reisen durch England beschlossen, in Deutschland Villen für repräsentatives Wohnen im Grünen zu bauen. Im Unterschied zu den englischen Landhäusern, die vorwiegend einzeln am Rande von Dörfern liegen, entschied sich Carstenn für den Bau einer großen Villensiedlung. Die Siedlung sollte nach seinen Vorstellungen ein architektonisch geschlossenes Ganzes bilden und ihren Bewohnern mit einem eigenen kleinen Geschäftszentrum die Verwirklichung eines gehobenen Lebensstils unabhängig von den alten Dörfern ermöglichen.

Nach längerer Suche fiel seine Wahl auf mehrere brachliegende Güter in der Nähe des Dorfes Lichterfelde bei Berlin. Carstenn verfolgte auch bei der Umsetzung seiner Idee ein neues Konzept. Sein Unternehmen erschloss das Gebiet durch Straßen- und Bahnanlage, machte strikte Vorgaben für eine repräsentative Villenbebauung im Gartenstadtcharakter, suchte Investoren und legte Planung und Bau der Villen dann in die Hände der jeweiligen Eigentümer. An der Anlage wirkte der damals bekannte Architekt Johannes Otzen mit. Die Nachfrage war begeistert, auch geschürt durch vielfältigste Werbemaßnahmen. Das erste Haus war die Villa Drake in der Mühlenstraße, dem heutigen Karwendelweg. Innerhalb kürzester Zeit wurde eine große Zahl von Grundstücken verkauft, Straßen angelegt und ein Gemeindehaus sowie ein Biergarten gebaut. Im Jahr 1872 wurde der Bahnhof Lichterfelde an der Berlin-Potsdamer Stammbahn eröffnet. Im Folgejahr 1873 jedoch geriet das Projekt vorübergehend in den Strudel des Gründerkrachs. Um die Attraktivität der neuen Kolonie zu steigern, hatte Carstenn jedoch vorausschauend dem preußischen Staat den Neubau der Hauptkadettenanstalt an der heutigen Finckensteinallee finanziert und beförderte den Umzug des elitären preußischen Gardekorps in neue Gebäude am Gardeschützenweg.

Bis um 1900 entstand in mehreren Bauphasen ein Stadtteil, der in seiner Mischung aus vielfältigsten Baustilen, Alleen, kleinen Plätzen und großen Gärten den Repräsentationsansprüchen des Gründerzeit-Bürgertums und seiner Sehnsucht nach Idylle gleichermaßen entsprach. Bis heute sind Villen der wichtigsten Spielarten des Historismus erhalten:

Eklektizistische Gebäude in wilhelminischem Geschmack finden sich neben neoromanisch angehauchten oder neogotisch gestalteten Häusern. Manche Villen haben hochaufragende „gotische“ Spitzgiebel und Türme, andere Säulen und „barocken“ Skulpturenschmuck an der Eingangstreppe, wieder andere sind Jugendstilbauten reinsten Charakters. Typisch sind das Hochparterre („Beletage“), das Kutscherhaus im Hof oder Garten sowie Turmbauten („Lichterfelder Türmchenvillen“) an allen wichtigen Plätzen oder Kreuzungen. Bekannt sind die in einem neogotisch-englischen (Phantasie)-Stil gehaltenen „Burgen-Villen“ des Architekten Gustav Lilienthal, Bruder des Flugpioniers Otto Lilienthal. Gustav Lilienthal wohnte im Tietzenweg 51 (vormals Dahlemer Straße 22), später bis zu seinem Tod in der Marthastraße 5. Otto Lilienthals Haus in der Boothstraße 17 ist nicht erhalten.

Um die Drakestraße und den S-Bahnhof sah Carstenn das Einkaufsviertel vor, die Drakestraße selbst wurde im Zuge der Begeisterung an allem Exotischen aus den jungen Überseekolonien mit eigens importierten „exotischen“ Bäumen und Sträuchern bepflanzt, die allerdings dem Klima in Berlin nicht lange standhielten. Carstenn pries seine Kolonie in seinen Werbebroschüren als „einer der schönsten Villenorte im Deutschen Reich“. Die Lichterfelder Kolonien wurden Vorbild für weitere Anlagen im kaiserlichen Deutschland.

Mit der Wirtschaftskrise der 1920er Jahre wurde für viele der Eigentümer der aufwendige Unterhalt der Villen, der umfangreiches Personal erforderte, zusehends schwer zu finanzieren. Da sich die Kolonie wegen der Nähe zur Kadettenanstalt zu einer bevorzugten Wohnlage des adeligen preußischen Offizierskorps entwickelt hatte, trafen sowohl die Verluste des Ersten Weltkriegs wie die Auflösung der Kadettenanstalt besonders hart. Lichterfelde West wurde bekannt für seine wohlhabenden Kriegswitwen („Witwenfelde“). Ein sichtbarer Bevölkerungswandel trat aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Häufig wurden für die veränderten Ansprüche zu große Villen in Wohnungen aufgeteilt, durch den Krieg gerissene Baulücken wurden, der Wohnungsnot der Nachkriegsjahre gehorchend, teilweise mit Mietwohnhäusern gefüllt. In den 1970er und 1980er Jahren kämpfte die Bürgerinitiative „Schwarze Rose“ erfolgreich für die Verstärkung des Denkmalschutzes in dem Viertel, um der fortschreitenden Bodenspekulation Einhalt zu bieten.

Der geschlossene Charakter der Kolonie als Villen- und Gartenstadt ist bis heute erhalten. Auch die alten Pflasterstraßen, der alte Baumbestand und die Gasbeleuchtung, die in den 1920er Jahren modernisiert wurde, sind überwiegend noch intakt. Die hohen Gründerzeithäuser und vergleichsweise engen baumbestandenen Alleen vermitteln bis heute die für das 19. Jahrhundert typische „urbane Gartenstadtatmosphäre“, die sich deutlich unterscheidet von dörflich geprägten Villensiedlungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Auch das historische Einkaufsviertel um den S-Bahnhof ist renoviert und gilt als architektonisches und städtebauliches Kleinod. Bis zum heutigen Tage nicht wiederhergestellt sind dagegen viele der originalen Platzgestaltungen mit Brunnen, Blumenbeeten und Bänken, die das Viertel ursprünglich prägten.

Seit dem Fall der Mauer erlebt Lichterfelde-West eine ausgesprochen rege Restaurierungstätigkeit, viele Villen wurden saniert und werden wieder ihrer traditionellen Bestimmung entsprechend genutzt. Das Viertel erfreut sich großer Beliebtheit bei Diplomaten, die die Lichterfelder Villen für ihre Repräsentationszwecke schätzen und die seit dem Mauerfall wiederhergestellte rasche Anbindung nach Mitte und in das Regierungsviertel nutzen.


Historische Beschreibungen

Lichterfelde West erlebte seinen ersten Boom bis zur Gründerkrise von 1873. Ulrich Muhs beschreibt im Jahr 1919 die Entwicklung so:

„Auch sonst war schon das Interesse für die Ansiedlung geweckt worden. Man hatte bereits in den höheren Kreisen der Gesellschaft angefangen, sich lebhaft dafür zu erwärmen. Die vornehme Welt Berlins fand sich zahlreich wochentags und des Sonntags zu Wagen und zu Pferde dort zusammen. Nicht weniger als 500–600 Equipagen wurden oft genug an einem Tag an dem Chausseehäuschen in Steglitz gezählt, die alle nach Lichterfelde fuhren. Das Pavillonrestaurant mit seinem großen schattigen Garten wurde bald eröffnet und kam überraschend schnell in die Höhe. Es sah damals glänzende Tage und war auf das vornehmste eingerichtet. Reichgekleidete Diener standen an den Eingängen und wehrten jedem den Zutritt, der sich nicht durch sein Äußeres und durch sein Auftreten als zur Gesellschaft gehörig kennzeichnete. Berliner und Potsdamer Kapellen gaben Konzerte im Freien. Auch sonst wurden Veranstaltungen der verschiedensten Art zur Unterhaltung des Publikums getroffen, wie auch der von Carstenn freigegebene Park hinter seinem Schloß mit Vorliebe besucht wurde. Kurz, es herrschte in dem kleinen Dörfchen ein jetzt kaum noch vorstellbares großstädtisches Treiben.“

– Ulrich Muhs: Lichterfelde einst und jetzt (Architekturverlag Der Zirkel)


Paul Lüders schrieb 1893:

„Die Freigebigkeit war an einzelnen Stellen, namentlich der Drakestraße, eine so verschwenderische gewesen, dass auf dem vorher kahlen Lande wie durch ein Zauber der herrlichste Park emporwuchs […] Leider sind später viele der edlen Gewächse wieder eingegangen. In dem kümmerlichen Boden und dem rauhen Klima vermochten besonders die ausländischen Pflanzen nicht fortzukommen …“

– Paul Lüders



Text: Wikipedia

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