Benno Ohnesorg

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Benno Ohnesorg (* 15. Oktober 1940 in Hannover; † 2. Juni 1967 in Berlin) war ein West-Berliner Student. Durch seinen gewaltsamen Tod während einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien wurde er deutschlandweit bekannt.

Der West-Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras traf den 26-jährigen mit einem Pistolenschuss aus kurzer Distanz tödlich in den Hinterkopf. Ohnesorgs Erschießung trug zur Ausbreitung und Radikalisierung der westdeutschen Studentenbewegung der 1960er Jahre bei. Sein Todestag gilt als Einschnitt der deutschen Nachkriegsgeschichte mit weitreichenden gesellschaftspolitischen Folgen.

Nachdem 2009 bekannt wurde, dass Kurras 1967 inoffizieller Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit gewesen war, wurden neue Ermittlungen durchgeführt. Sie ergaben 2011, dass er auf Ohnesorg ohne Auftrag, unbedrängt und wahrscheinlich gezielt geschossen hatte. Er wurde dennoch nicht erneut angeklagt.

Leben

Benno Ohnesorg war der zweite von drei Söhnen. Seine Mutter starb, als er neun Jahre alt war. Er wuchs bei seinem Vater auf, der inzwischen wieder geheiratet hatte. Nach der mittleren Reife absolvierte er eine Lehre als Schaufenster-Dekorateur.

Abiturlehrgang

Anfang 1960 bewarb sich Ohnesorg beim Braunschweig-Kolleg, um dort das Abitur nachzuholen. In seiner Bewerbung gab er Kunsterzieher als Berufswunsch an und nannte als Interessengebiete moderne Malerei und Lyrik, klassische griechische und zeitgenössische Dramen sowie Kammermusik. Er erstelle Plastiken und Linolschnitte, besuche regelmäßig Klavierkonzerte und informiere sich regelmäßig über alle aktuellen Tendenzen der modernen Kunst.[1]

Die Psychologin des Kollegs, Elisabeth Müller-Luckmann, bescheinigte ihm Sensibilität, Intelligenz, musisches Talent, Eigensinn und große Aufnahmefähigkeit. Er sei introvertiert und eher nachdenklich als tonangebend, habe aber „durchaus Ansätze, jemand zu werden, der nicht ganz alltäglich ist“. Er wurde als einer von vierzig aus vierhundert Bewerbern für 1961 zugelassen. Im Oktober 1960 präzisierte er seine Interessen in einem Brief an seinen künftigen Schuldirektor: Er wolle Hirnphysiologie und Kunst studieren.[2]

Im Abiturlehrgang galt Ohnesorg als nicht politisch, aber vielseitig literarisch und musikalisch interessiert. Nach seinem damaligen Freund, dem späteren Schriftsteller Uwe Timm, las Ohnesorg Werke französischer Dichter seit François Villon sowie deutsche Nachkriegsautoren. Mit Timm zusammen las und diskutierte er Werke von Albert Camus (Der Fremde), Jean-Paul Sartre, Samuel Beckett (Molloy), Ernst Bloch (Spuren), Friedrich Nietzsche (Menschliches, Allzumenschliches). Er schrieb Gedichte, veröffentlichte aber nur eines davon unter dem Kryptonym O’Neso in der einzigen Ausgabe einer von ihm und Uwe Timm herausgegebenen Literaturzeitschrift mit dem Namen teils-teils.[3]

Ohnesorg nutzte seine Schulferien für Auslands- und Bildungsreisen, etwa nach London, und schloss Brieffreundschaften. Seit 1961 studierte er englische Dichtung, interessierte sich für Kalligraphie und lernte dafür Chinesisch. 1962 begann er nach einer Marokkoreise Arabisch zu lernen. 1963 bestand er sein Abitur.[4]

Studienzeit

Anschließend bewarb sich Ohnesorg an der Staatlichen Hochschule der Bildenden Künste in West-Berlin, wurde dort aber abgelehnt. 1964 begann er an der Freien Universität in West-Berlin Romanistik und Germanistik zu studieren mit dem Ziel, Gymnasiallehrer zu werden. 1965 arbeitete er als Lehrer ein Jahr lang in Paris. Am 27. April 1967 heiratete er seine schwangere Freundin Christa und wohnte mit ihr in der Prinzregentenstraße in Berlin-Wilmersdorf.

Ohnesorg war politisch interessiert, aber kaum aktiv. Er war Pazifist und Mitglied einer evangelischen Studentengemeinde.[5] Er nahm 1964 am Deutschlandtreffen der Jugend in Ost-Berlin teil, war Mitglied im damaligen Diskussionsclub Argument, unterschrieb einmal eine Petition der Kampagne für Abrüstung der Ostermarsch-Bewegung und ging ein anderes Mal zu einer Demonstration gegen die Bildungspolitik des West-Berliner Senats. Er las die damals unter linksgerichteten Studenten beliebte Zeitschrift Berliner Extra-Dienst.[6]

Todesumstände

Polizeistrategie

Die Bereitschaftspolizei West-Berlins hatte bis 1970 auch paramilitärische Aufgaben und galt als Reserve der alliierten Truppen. Das Personal bestand zu über 50 Prozent aus ehemaligen Offizieren der Wehrmacht.[7] Die Ausbildung war damals noch stark militärisch geprägt. Ideologisch und organisatorisch war die Polizei vor allem auf die Abwehr einer vermuteten Gefahr aus dem Ostsektor Berlins und durch kommunistische Verbündete im Inneren ausgerichtet.[8] Rechtsmaßstäbe und Einsatzkonzepte stammten weitgehend aus der Zeit der Weimarer Republik. Bei der Definition und Behandlung von Notwehr-Situationen bestand ein großer Ermessensspielraum.

Die Polizei West-Berlins verschärfte ihr Vorgehen gegen Studenten seit 1966. Bei einer „Spaziergangsdemonstration“ am 17. Dezember 1966 setzte sie erstmals in Zivil gekleidete „Greiftrupps“ ein, die während eines Schlagstockeinsatzes einzelne vermutete Rädelsführer aus der Menge griffen und diese der uniformierten Polizei übergaben. 80 Personen wurden festgenommen, darunter auch Kinder. Über 40 davon war keine Beteiligung nachzuweisen.[9] Vor dem Staatsbesuch von Hubert Humphrey, dem damaligen US-Vizepräsidenten, nahm die Polizei am 5. April 1967 elf Mitglieder der Kommune I wegen eines angeblich geplanten Bombenattentats fest. Sie wurden mangels Indizien am Folgetag aus der Untersuchungshaft entlassen.[10]

In einem Brief an Innensenator Wolfgang Büsch sprach Polizeipräsident Erich Duensing am 13. April 1967 von einem „Studentenkrieg“, der nicht mit Polizei, sondern nur mit Staatsanwälten und Gerichten zu bewältigen sei. In seiner Antwort am 8. Mai erwartete Büsch dagegen verschärfte Konfrontation, die größere Polizeiaufgebote notwendig machen würde. Dazu schrieb er:[11]

„Diesen Anforderungen werden die eingesetzten Polizeibeamten nur dann genügen können, wenn sie stets die Gewissheit haben, dass ihre Vorgesetzten auch dann für sie eintreten, wenn sich bei der nachträglichen taktischen und rechtlichen Prüfung Fehler herausstellen sollten. Das setzt allerdings voraus, dass diese Fehler nicht als Dienstpflichtverletzungen angesehen werden müssen.“

Büsch lehnte Deeskalationsmaßnahmen damit ab und wollte den studentischen Protesten durch verstärkten Gewalteinsatz begegnen, ohne dass die eingesetzten Polizeibeamten strafrechtliche Verfolgung befürchten müssten.[12]

Vorbereitung auf den Schahbesuch

Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) protestierte seit 24. Mai 1967 mit der „Konföderation iranischer Studenten“ und der Gruppe „Freunde der Publizistik“ gegen den Staatsbesuch von Schah Mohammad Reza Pahlavi und versuchte, die FU-Studenten und Berliner Bevölkerung über dessen diktatorische Politik in Persien aufzuklären. Am 1. Juni 1967 rief der SDS für den Folgetag zu Demonstrationen vor dem Schöneberger Rathaus und der Deutschen Oper auf. Der AStA der FU meldete die abendliche Demonstration an.[13]

Am Nachmittag beschrieb der Exilperser Bahman Nirumand im vollbesetzten Audimax der FU die undemokratischen Zustände in seiner Heimat. Diesen Vortrag hörte auch Ohnesorg und beschloss, am Folgetag an Protesten teilzunehmen. Sein Interesse hatte schon Nirumands Buch Persien. Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der freien Welt geweckt.[14]

Am Abend trafen etwa 150 sogenannte „Jubelperser“[15] mit Sonderflügen in West-Berlin ein.[16]

Am Schöneberger Rathaus

Am 2. Juni 1967 besuchte der Schah West-Berlin für einen Tag. Im Schöneberger Rathaus sollte er sich in das Goldene Buch der Stadt eintragen. Bei seiner Ankunft demonstrierten dort zwischen 400 und 1000 Schahgegner, riefen „Mörder, Mörder“ und forderten Amnestie für politische Gefangene in Persien.

Die Polizei hatte den Schahanhängern einen mit Sperrgeländern abgeteilten Streifen zwischen Rathaus und Demonstranten zugewiesen. Nach dem Eintritt des Schahs in das Rathaus griffen die Schahanhänger die Demonstranten mit Holzlatten, Knüppeln und Stahlrohren an und verletzten Dutzende von ihnen, einige schwer. Polizisten schauten zu, ohne einzugreifen und Schläger festzunehmen; sie nahmen jedoch nach etwa fünf Minuten Demonstranten fest, noch während diese verprügelt wurden.[17] Dem Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz versprach die Polizei danach, die Schahanhänger abends von den Studenten fernzuhalten. Unter diesen „Jubelpersern“ wurden auch Agenten des persischen Geheimdienstes SAVAK vermutet. Albertz war im Nachhinein von dessen Mitverantwortung für die Gewalttaten überzeugt und hielt es für möglich, dass das Auswärtige Amt und der Bundesnachrichtendienst von der Einreise der „Schlägertruppen“ wusste.[16]

Wegen dieser Vorfälle, über die der Rundfunksender RIAS direkt berichtete, beschlossen viele, abends erneut gegen den Schah zu demonstrieren. Darunter waren Christa und Benno Ohnesorg, die ein Spruchband mit der Aufschrift „Autonomie für die Teheraner Universität“ anfertigten.[18]

Vor der Deutschen Oper

Am Abend des 2. Juni besuchte das Schahehepaar eine Galaaufführung der „Zauberflöte“ in der Deutschen Oper. Die Polizei hatte davor Absperrgitter postiert, die den südlichen Bürgersteig der Bismarckstraße frei ließen. Ein Bauzaun begrenzte diesen Korridor auf der Rückseite. Dazwischen sammelten sich etwa 2000 Demonstranten und Schaulustige.

Duensings Räumungsbefehl von 18:30 Uhr erreichte den Einsatzleiter vor der Oper erst um 19:00 Uhr und wurde nicht umgesetzt, weil die Menge inzwischen zu groß geworden war und nicht mehr bis zum Eintreffen der Staatsgäste aufgelöst werden konnte. Daraufhin befahl er dem Einsatzleiter um 19:50 Uhr die Räumung des Opernvorplatzes während der dreieinhalbstündigen Opernvorstellung.[19] Albertz vermutete irrtümlich noch 1981, er selbst habe die Polizei zur gewaltsamen Auflösung der Demonstration veranlasst, indem er beim Eintritt in die Oper sagte:[20]

„Ich hoffe, dass sich bei der Abfahrt dieses Schauspiel nicht wiederholt.“

Gegen 20:00 Uhr trafen die Wagenkolonne des Schahs und zwei städtische Busse mit persischen Schahanhängern ein. Sie wurden seitlich zwischen Polizeigürtel und Demonstranten postiert. Diese riefen, als die Staatsgäste die Oper betraten, in Sprechchören „Schah, Schah, Scharlatan“, „Schah-SA-SS“ und „Mo, Mo, Mossadegh“, um an den vom Schah gestürzten und arrestierten ehemaligen persischen Regierungschef zu erinnern. Einige warfen Farbbeutel, Mehltüten, Eier, Tomaten und Rauchkerzen, die die 40 m entfernten Opernbesucher jedoch nicht trafen. Steine wurden nach späteren Aussagen mehrerer direkter Augenzeugen nicht geworfen.[21]

Nach dem Eintritt des Schah und seiner prominenten Begleiter, darunter des Bundespräsidenten, in die Oper wollten die Demonstranten den Platz verlassen. Christa und Benno Ohnesorg standen mit ihrem Bekannten Dietz Bering auf dem südlichen Gehweg und bewegten sich zum östlichen Ende der Absperrung an der Ecke Krumme Straße-Bismarckstraße.[22] Zugleich formierten sich die Polizeibeamten in Höhe des Operneingangs mit gezogenen Schlagstöcken zu drei Zweierreihen.

Die Schahanhänger schlugen erneut mit Dachlatten, Holzknüppeln, Schlagringen und Eisenstangen auf die Demonstranten ein. Da keine Flucht möglich war, brach Panik aus. Erneut wurden viele Beobachter verletzt, ohne dass die Polizei eingriff. Sie ließ die Schläger nach einer Weile durch eine nahegelegene U-Bahn-Station abziehen und blockierte dann diesen Ausgang für die Demonstranten.[23]

Nach Zeugenaussagen erfolgte über einen Lautsprecherwagen etwa um 20:05 Uhr die Durchsage, Demonstranten hätten einen Polizisten erstochen. Andere Polizisten kündigten Studenten vor dem Schlagstockeinsatz entsprechende Behandlung an. Nach dem offiziellen Untersuchungsbericht erging die Durchsage erst danach ab 21:00 Uhr. Sie wurde bis 23:00 Uhr auf dem Kurfürstendamm verbreitet.[24]

Die Demonstranten im mittleren Bereich setzten sich spontan auf die Straße, wurden aber nun von allen Seiten geschlagen. Vielen Anwesenden zufolge forderte die Polizei erst gegen 20:25 Uhr zum Verlassen des Platzes auf. Da sie auch das Gelände hinter dem Bauzaun besetzt hatte und Fliehende mit Polizeihunden wieder in den Kessel zurückdrängte, war ein Ausweichen kaum möglich. Studenten, die über die Sperrgitter kletterten, wurden zurückgeworfen und -geprügelt, zur Anwendung kam hier die sogenannte Leberwursttaktik. Weitere Beamte schlugen die Fliehenden am Rande des Kessels, setzten Wasserwerfer und Tränengas gegen sie ein.[25]

Tödlicher Schuss

Zur Festnahme vermeintlicher Rädelsführer, von der Polizei „Fuchsjagd“ genannt, verfolgten Greiftrupps in Zivilkleidung fliehende Demonstranten bis in Nebenstraßen und Häusereingänge hinein. Zu einem solchen Trupp gehörte Karl-Heinz Kurras, der sich zuvor unter die Demonstranten gemischt hatte.

Ohnesorg trug an diesem Abend ein hellrotes Hemd und Sandalen, woran Zeugen ihn später identifizierten.[26] Er sah, wie mehrere Zivilbeamte einen Mann in der Krummen Straße Nr. 66/67 (300 Meter von der Oper entfernt, heute Schillerstraße 29) in einen Innenhof zerrten. Um zu beobachten, was dort mit ihm geschah, folgte er ihnen und trennte sich an der Kreuzung Krumme Straße/Schillerstraße von seinen Begleitern.[27]

Im Hinterhof stellten mindestens zehn zivile und uniformierte Polizisten etwa zehn Personen und begannen auf sie einzuschlagen. Ein Student wurde am Boden liegend von drei Beamten verprügelt und getreten. Die übrigen Studenten versuchten, wieder aus dem Innenhof zu fliehen. Ohnesorg stand wenige Meter entfernt und schaute zu. Nach Aussage eines Zeugen, der die Szene auf einer Mülltonne am Hofrand stehend beobachtete, trieb die Polizei dann alle Umstehenden hinaus; nur Ohnesorg habe sich noch im Hof befunden. Der Vorgesetzte von Kurras bezeugte, Ohnesorg habe zu fliehen versucht, worauf Polizisten ihm den Weg abgeschnitten hätten. Einer davon sagte zunächst aus, Ohnesorg sei dann von drei Beamten im Griff gehalten worden. Eine Frau sah, dass drei Polizisten ihn verprügelten. Darauf habe er seine Hände halb erhoben: Sie habe dies als Zeichen der Ergebung und Beschwichtigung gedeutet.

Etwa um 20:30 Uhr fiel ein Schuss, der Ohnesorg aus etwa eineinhalb Metern Entfernung in den Hinterkopf traf. Ein Student sagte später aus, er habe das Mündungsfeuer einer Pistole „ungefähr in Kopfhöhe“ und gleich darauf den Fall des Getroffenen gesehen.[28] Andere Zeugen bestätigten dies. Einige hörten Ohnesorg zuvor schreien, andere hörten den entsetzten Ausruf:[29] Bitte, bitte, nicht schießen! Eine Krankenschwester hörte von der Straße aus den Ruf „nicht schießen“. Dies könnte auch ein Polizist nach dem Schuss gesagt haben, da andere Zeugen einen Wortwechsel zwischen einem Polizeibeamten (Horst Geier) und Kurras hörten:[30]

„Bist du denn wahnsinnig, hier zu schießen? – Die ist mir losgegangen.“

Ein Tonband, aufgenommen von einem Toningenieur des Süddeutschen Rundfunks, dokumentiert ein Schussgeräusch, gleich darauf einsetzende „Mörder, Mörder!“-Rufe in der Krummen Straße und den Befehl einer männlichen Person:

„Kurras, gleich nach hinten! Los, schnell weg!“

Drei Journalisten fotografierten die Vorgänge im Hof in diesen Minuten. Auf zwei dieser Fotos, wahrscheinlich Sekunden nach dem Schuss aufgenommen, ist Kurras allein stehend und unbedrängt im sauberen Anzug zu sehen. Die Polizisten – darunter der herbeigeeilte Einsatzleiter – drängten die Fotografen ab und brachten Kurras ins Polizeipräsidium.[31] Eine 2009 von der Bundesanwaltschaft veranlasste Überprüfung von damaligem Foto- und Filmmaterial, darunter einer bisher unausgewerteten Filmsequenz, erhärtete den Verdacht, dass Kurras unbedrängt und gezielt auf Ohnesorg schoss und dies von Polizeikollegen, darunter dem Einsatzleiter Helmut Starke, aus nächster Nähe beobachtet wurde.[32]

Tod im Krankenwagen

Die Studentin Erika S. hatte den Knall gehört, aber nicht als Pistolenschuss gedeutet. Sie erreichte, dass die prügelnden Polizisten von dem Schwerverletzten abließen.[33] Friederike Dollinger und eine weitere Frau drehten Ohnesorg auf den Rücken und stützten seinen blutenden Kopf, wie ein berühmt gewordenes Foto zeigt.[34][35]

Anwesende Polizisten weigerten sich zunächst, einen Krankenwagen zu holen. Sie hinderten einen herbeigeeilten norwegischen Schiffsarzt daran, dem Verletzten Erste Hilfe zu leisten. Der zehnminütige Wortwechsel endete damit, dass der Arzt wegen eines Abzeichens der Résistance und seiner Bemerkung, er habe in Ost-Berlin als Arzt arbeiten dürfen, als Kommunist verdächtigt wurde. Gegen 20:50 Uhr traf der Krankenwagen ein. Die Fahrt ins Krankenhaus dauerte geschätzte 45 Minuten, da das zunächst angefahrene Albrecht-Achilles-Krankenhaus und die Westendklinik angaben, keine Betten für Verletzte mehr frei zu haben. Die Begleiter, ein Sanitäter und eine selbst verletzte Krankenschwester, versuchten während der Fahrt Ohnesorgs Leben zu retten. Nach Aussage der Schwester starb er in ihrem Beisein auf dem Transport. Gegen 21:35 Uhr erreichte der Wagen das Krankenhaus Moabit. Ein Arzt untersuchte Ohnesorg kurz und schrie die Sanitäter an, weshalb sie ihm einen Toten gebracht hätten. Laut Krankenhausakte trat Ohnesorgs Tod jedoch erst um 22:55 Uhr ein; als Todesursache wurde „Schädelbasisbruch“ angegeben.[36]

Kurras durfte den Leichnam Ohnesorgs noch in der Nacht zum 3. Juni besichtigen. Ein weiterer Polizist behauptete dabei, der Tote sei „zu seinen Lebzeiten“ einer der „größten Krakeeler“ am Vorabend gewesen.[37]

Obduktion

Innensenator Büsch ordnete an, die zunächst für den 5. Juni angesetzte Obduktion vormittags am 3. Juni durchzuführen. Der obduzierende Arzt fand Prellungen und Hämatome am ganzen Körper.[38] Als Todesursache stellte er einen „Gehirnsteckschuss“ fest. Ein sechs mal vier Zentimeter großes Knochenstück der Schädeldecke mit dem Einschussloch war herausgesägt und die Kopfhaut darüber zugenäht worden. Der anwesende Rechtsanwalt Horst Mahler, damals SDS-Mitglied, deutete diesen Befund als Versuche, die Todesursache zu vertuschen. Uwe Soukup fasste die offenen Fragen 2007 dazu zusammen:[39]

„Warum wurde an einem Toten herumoperiert? Welchen medizinischen Sinn soll es haben, den Teil des Schädelknochens herauszusägen, in dem sich die Einschussstelle befindet? … Wurde der Todeszeitpunkt auf 22:55 festgelegt, um die merkwürdige Behandlung des bereits Verstorbenen zu legitimieren, indem man sie als Rettungsversuch ausgibt? …Obwohl die Einschussstelle freigelegt und daran herumoperiert worden war, will tatsächlich niemand die Schussverletzung bemerkt haben?“

Eine sofort angeordnete polizeiliche Suche nach dem Knochenstück blieb ergebnislos. Beteiligte Ärzte und Schwestern verwahrten sich gegen Verdächtigungen. Im späteren Freispruch für Kurras wurde bestätigt, Ohnesorg sei sehr wahrscheinlich noch nach dem Schuss verprügelt worden. Der behandelnde Arzt habe Einschuss, Schusskanal und Projektil im Gehirn nicht erkannt.[40]

Ein damals beteiligter Assistenzarzt, der aus einer mit dem Schah befreundeten persischen Familie stammt, erklärte 2009, er habe Ohnesorgs Totenschein auf Anweisung seiner Vorgesetzten mit falschem Todeszeitpunkt ausgefüllt.[41] Nach einem Medienbericht von Januar 2012 erklärte der Arzt, der den Totenschein ausstellte, er habe auf Anweisung seines Chefarztes, nicht aufgrund eigener Untersuchung „Schädelverletzung durch stumpfe Gewalteinwirkung“ als Todesursache eingetragen.[32]

Überführung und Beerdigung

Am 8. Juni, nach einer Trauerfeier im Henry-Ford-Bau der FU Berlin, wurde der tote Benno Ohnesorg nach Hannover überführt. Etwa 15.000 Menschen versammelten sich trotz eines vom West-Berliner Senat erlassenen Demonstrationsverbots am Grenzübergang Dreilinden, um ihn zu verabschieden.[42] Der Berliner Theologe Helmut Gollwitzer erinnerte in seiner Ansprache an die Todesopfer des Vietnamkriegs und Nahostkonflikts im selben Monat, und fuhr fort:[43]

„Benno Ohnesorgs Leidenschaft galt dem Frieden… Als er sich dort von seiner Frau an der Straßenecke in der Schillerstraße trennte und hinüber zur Krummen Straße ging, …war es vielleicht sein Impuls, einem Misshandelten zu helfen, der ihn sein Leben kostete… Nehmt diesen ersten unkontrollierten Konvoi seit Kriegsende als Zeichen der Verheißung für ein künftiges friedliches Deutschland…, in dem man wieder, ungehindert durch Autobahngebühren, Stacheldrähte und Mauern, frei hin und herfahren kann.“

Christa Ohnesorg hatte gegen den Wunsch des Senates, der ihr eine Überführung per Flugzeug nahelegte und finanziert hätte, eine Überführung Ohnesorgs auf dem Landweg durchgesetzt. Hunderte Pkw begleiteten Ohnesorgs Sarg dann auf der Transitstrecke durch die DDR. Deren Behörden nutzten dies propagandistisch aus, indem sie an beiden Grenzübergängen auf die üblichen Kontrollen und Transitgebühren verzichteten sowie FDJ-Gruppen und Betriebsdelegationen als grüßende Menge aufboten. Die Sperrung der Transitstrecke für sonstigen Verkehr löste Unmut bei vielen westdeutschen LKW-Fahrern aus. Die Braunschweiger Polizei schützte den Konvoi jedoch vor deren Angriffen.

Am Folgetag, den 9. Juni 1967, wurde Ohnesorg auf dem Stadtteilfriedhof Bothfeld in Hannover-Bothfeld beerdigt, begleitet von einem Schweigemarsch von rund 7.000 Studenten durch die hannoversche Innenstadt.[44] In der ganzen Bundesrepublik demonstrierten vom 3. bis 9. Juni 1967 Hunderttausende, darunter etwa 40 Prozent aller Studenten, gegen das Vorgehen der Berliner Polizei.[45]

Im November 1967 gebar Christa Ohnesorg den gemeinsamen Sohn Lukas, dessen Patenschaft Helmut Gollwitzer übernahm. Sie befreundete sich mit Gretchen Dutschke-Klotz, der Ehefrau des Studentenführers Rudi Dutschke. Sie lebte in Hannover und arbeitete als Studienrätin an der Herschelschule. Nach ihrem Tod im Jahr 2000 wurde sie neben ihrem Mann beerdigt.[46]

Reaktionen und Folgen

Regierender Bürgermeister

Heinrich Albertz (SPD) hörte während der Opernvorstellung als Gerücht, ein Student, dann, ein Polizist seien zu Tode gekommen. Er fuhr danach nach Hause. Durch Radionachrichten um 0:00 Uhr am 3. Juni erfuhr er vom Tod Ohnesorgs, nicht aber von dessen Ursache.[47] Gegen 1:00 Uhr gab er eine vom Senats-Pressechef Hanns-Peter Herz vorbereitete Erklärung ab:[48]

„Die Geduld der Stadt ist am Ende. Einige Dutzend Demonstranten, darunter auch Studenten, haben sich das traurige Verdienst erworben, nicht nur einen Gast der Bundesrepublik Deutschland in der deutschen Hauptstadt beschimpft zu haben, sondern auf ihr Konto gehen auch ein Toter und zahlreiche Verletzte – Polizeibeamte und Demonstranten. Die Polizei, durch Rowdies provoziert, war gezwungen, scharf vorzugehen und von ihren Schlagstöcken Gebrauch zu machen. Ich sage ausdrücklich und mit Nachdruck, dass ich das Verhalten der Polizei billige und dass ich mich durch eigenen Augenschein davon überzeugt habe, dass sich die Polizei bis an die Grenzen der Zumutbarkeit zurückgehalten hat.“

Er gab also den Demonstranten die Schuld am Polizeieinsatz und Tod Ohnesorgs. Für dessen Angehörige fand er auch in den Folgetagen kein Wort. Am 8. Juni erklärte er vor dem Abgeordnetenhaus:[49]

„Der tote Student ist das hoffentlich letzte Opfer einer Entwicklung, die von einer extremistischen Minderheit ausgelöst worden ist, die die Freiheit missbraucht, um zu ihrem Endziel, der Auflösung unserer demokratischen Grundordnung, zu gelangen. Ich stelle hier mit Leidenschaft fest: Wer Ursache und Wirkung verwechselt, macht sich bereits mitschuldig.“

In den Folgemonaten rückte Albertz von seinem bedingungslosen Rückhalt für die Polizei ab. Dazu trugen intensive Gespräche mit Helmut Gollwitzer und Bischof Kurt Scharf, der den Studenten Kirchenräume für Diskussionstreffen zur Verfügung stellte, bei. In seiner Rundfunkrede am 3. September 1967 erinnerte er an die Erfahrungen der Weimarer Republik:[50]

„Freiheiten dieser Art führen zu nichts anderem als zu faschistischem Gegendruck und zur Bildung autoritärer Staatsformen. Das haben wir vor 1933 bitter genug gelernt.“

Am 15. September 1967 im Abgeordnetenhaus führte Albertz den Polizeieinsatz auf falsche Ost-West-Front-Denkmuster zurück. Auf Vorwürfe, er habe eine zu weiche Haltung gegenüber den Studenten eingenommen, antwortete er:[51]

„Hier liegen tiefe Versäumnisse von uns allen: dass wir nicht früher, häufiger und deutlicher gerade mit jungen Menschen über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten unserer Politik gesprochen haben. […] Ich glaube nun, dass wichtiger als alles, was Ordnungsorgane in unserer Stadt gegenüber extremen Minderheiten oder sonst zu tun haben, politische Antworten sind, die wir zu geben haben. […] Ich war am schwächsten, als ich am härtesten war, in jener Nacht des 2. Juni, weil ich dort objektiv das Falsche tat.“

Dies bezog sich auf seine nächtliche Rechtfertigung des Polizeieinsatzes und Schuldzuweisung an die Studenten. Wegen Intrigen des rechten Parteiflügels, der ihn seit seinem Amtsantritt im April 1967 stürzen wollte, fand eine Neubesetzung des Innenressorts keine Mehrheit. Daraufhin trat Albertz am 26. September 1967 zurück.[52]

West-Berliner Senat

Der SPD-geführte Senat beschloss am Nachmittag des 3. Juni eine 14-tägige „Nichtgenehmigung von Demonstrationen“, obwohl West-Berlins Verfassung kein generelles Versammlungsverbot erlaubte.[53] Ferner forderte Jugendsenator Kurt Neubauer (Politiker), alle als „Rädelsführer“ Festgenommenen aus Berlin abzuschieben und sich dafür eine entsprechende Anordnung der Alliierten zu besorgen. Andere wollten Demonstranten psychiatrisch begutachten lassen. Dem Vorschlag von Justizsenator Hans-Günter Hoppe (FDP) folgend richtete der Senat Schnellgerichte für die Festgenommenen ein.[54]

Die SPD-Abgeordneten Gerd Löffler und Dietrich Stobbe, die am 2. Juni in der Krummen Straße nahe dem Tatort gewesen waren, wiesen in der Senatssitzung darauf hin, erst die Räumung des Opernvorplatzes habe die Gewalteskalation beider Seiten bewirkt.

Das Demonstrationsverbot wurde am 12. Juni aufgehoben, um Zusammenstöße bei einer Studentendemonstration jenes Tages zu vermeiden.

Polizei

Polizeipräsident Erich Duensing (SPD) war spätestens gegen 1:00 Uhr am 3. Juni über Ohnesorgs Erschießung durch einen Polizisten informiert. Er berichtete Albertz am folgenden Vormittag von einem „Querschläger“, der Ohnesorg versehentlich getroffen habe. Der Senatssprecher erklärte diese Version auf einer Pressekonferenz, wurde dort aber bereits mit widersprechenden Zeugenaussagen konfrontiert.

Nach damaligen studentischen Recherchen waren 20,[55] nach anderen Angaben 28 Polizeibeamte am 2. Juni leicht verletzt, 27 davon ambulant behandelt worden.[56] Von einer unbekannten Zahl verletzter Demonstranten wurden etwa 45 in Krankenhäuser eingeliefert. Über sie verhängte die Polizei eine tagelange Nachrichtensperre, so dass Angehörige zunächst weder ihren Aufenthaltsort noch Verletzungsarten und -grade erfuhren. Auch Schwerverletzten, die ihre Personalien nicht nennen wollten, darunter der Frau, die Ohnesorgs Transport begleitet hatte, wurde die Behandlung verweigert.[57]

Die Berliner Polizeigewerkschaft verlangte am 3. Juni schärfere Maßnahmen gegen das „zügellose Treiben dieses Mobs“ und ein Abgehen vom Kurs der „weichen Welle“ bei der „Behandlung dieser Kriminellen.“ Die Polizei verhinderte weitere Demonstrationen mit Straßensperren und massiver Präsenz und riegelte auch den Campus der FU ab. Ein Polizeiplakat erklärte das Demonstrationsverbot wie folgt:[58]

„Wer mit Gewalt die Rechtsordnung unseres Landes untergraben und unsere Gesellschaftsordnung beseitigen will, hat das Recht verwirkt, sich auf demokratische Freiheiten zu berufen. […] Treten wir daher gemeinsam entschieden jenen Kräften entgegen, die das Maß der freien Meinungsäußerung und der Demonstrationsfreiheit bei weitem überschreiten.“

Eine Spurensicherung am Tatort war unterblieben. Nach dem Polizeibericht, der sich ausschließlich auf Aussagen der anwesenden Polizisten stützte, sollte Kurras in Notwehr geschossen haben. Dieser hatte das Magazin seiner Dienstwaffe noch am Tatabend ausgetauscht und seine Kleidung am Folgetag in die Reinigung gebracht. Er gab in den Folgetagen drei verschiedene Versionen des Tathergangs an, die nur im ersten Punkt übereinstimmten: Er habe sich von den Demonstranten bedroht gefühlt, daraufhin seine Waffe gezogen und entsichert.

Dann habe er einen oder zwei Warnschüsse abgegeben, von denen einer als Querschläger Ohnesorg getroffen habe.

Im Handgemenge sei seine Waffe versehentlich losgegangen.

Zwei Männer mit „blitzenden Messern“ hätten ihn, als er am Boden lag, angegriffen, und er habe sich durch Gebrauch der Schusswaffe schützen wollen.[59]

Die dritte Version vertrat er – ohne Widerspruch seitens der Behörden – monatelang in der Presse und später auch in seinem Prozess.

Duensing beschrieb das Polizeivorgehen gegenüber Journalisten am 5. Juni so:[60]

„Nehmen wir die Demonstranten wie eine Leberwurst, nicht wahr, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt.“

Am 7. Juni wurde Duensing auf eigenen Wunsch beurlaubt und am 22. September vorzeitig in Pension geschickt.

Parlamentarische Untersuchung

Ein am 7. Juni vom West-Berliner Abgeordnetenhaus eingesetzter Untersuchungsausschuss sollte das Verhalten von Demonstranten und Polizei beim Schahbesuch „unter Hinzuziehung staatsanwaltlicher Ermittlungsergebnisse“ untersuchen und Verursacher von „Zwischenfällen und Unruhen“ an der FU und in der Stadt feststellen. Er tagte unter dem Vorsitz von Gerd Löffler (SPD) vom 23. Juni bis September 1967.

Der Ausschuss stellte fest, dass Innensenator Wolfgang Büsch (SPD) und der Kommandeur der Schutzpolizei Hans-Ulrich Werner die Freigabe des südlichen Gehwegs vor der Oper am 30. Mai geplant hatten, um „die Störer auf einem Haufen zu haben“. Der stellvertretende Polizeipräsident Georg Moch (CDU) hatte diesen Plan abgelehnt. Albertz und Staatssekretär Ernst Benda (CDU) vom Bundesinnenministerium hatten mit dem Protokollchef des Senats und dem Bundespräsidenten Heinrich Lübke verabredet, den Vorplatz der Oper weiträumig sperren zu lassen. Albertz ließ dies der Senatsinnenverwaltung mündlich und schriftlich mitteilen. Doch der zuständige Senatsrat Hans-Joachim Prill (SPD) informierte den Polizeipräsidenten nicht darüber, da der Regierende Bürgermeister kein direktes Weisungsrecht gegenüber der Polizei gehabt habe. Auch über ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Februar 1967, das die Verhältnismäßigkeit der Mittel auch im Fall von Krawallen anmahnte, hatte er die Polizeiführung nicht informiert.

Duensing erklärte vor dem Ausschuss, das Bürgermeisteramt habe ihn nicht über die gewünschte weiträumige Absperrung unterrichtet. Auch von den „Jubelpersern“ habe er erst am 1. Juni erfahren, nicht aber von deren Auftraggebern. Er habe angeordnet, sie „gut verpackt“ am Rand hinter dem Polizeigürtel zu postieren. Ein Kriminaloberst hatte vormittags am 2. Juni vergeblich auf die Gefahr aufmerksam gemacht, die von den direkt vor den Studenten postierten Persern ausgehe. Wer Duensings Befehl missachtet hatte, blieb ebenso ungeklärt wie die Fragen, warum Pflastersteine und Hartgummiringe auf dem von der Polizei besetzten Bauplatz südlich des Gehwegs zugänglich geblieben waren und wer über 100 Krankenwagen an den Ort der erwarteten Proteste bestellt hatte.[61]

Der Ausschuss verhörte einige der festgenommenen Studenten und warf ihnen Beleidigung, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Landfriedensbruch, Strafbegünstigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt vor, auch wenn sie dieses bestritten und andere Augenzeugen von widerstandslosem Verhalten berichteten. Der Abschlussbericht billigte das Vorgehen der Einsatzkräfte als rechtmäßig, wenn auch nicht immer verhältnismäßig, und rügte nur unterbliebene Ermittlungen gegen die Schahanhänger und das Verhalten einzelner Polizeibeamter. Er empfahl, den Einsatzleiter der Abteilung III in der Senatsverwaltung für Inneres zu entlassen und den Polizeipräsidenten vorzeitig zu pensionieren. Damit räumte er deren Mitverantwortung ein. Weitere Konsequenzen forderte er nicht.

Der Untersuchungsbericht des AStA, dort gesammelte studentische Zeugenaussagen und daraus abgeleitete weitergehende Forderungen blieben unberücksichtigt. Das Abgeordnetenhaus überging die Kritik des AStA, der Ausschuss habe seine wichtigsten Thesen nicht bewiesen, und nahm dessen Bericht ohne Einwände an.[62] Kurz darauf, am 19. September 1967, trat Büsch, der seinen Amtsverzicht zuvor zweimal angeboten hatte, als für den Polizeieinsatz am 2. Juni Verantwortlicher zurück.

Justiz

Gegen Karl-Heinz Kurras wurde ein Verfahren wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung eingeleitet; eine Anklage wegen Totschlags wurde nicht zugelassen. Er wurde für die Prozessdauer vom Polizeidienst beurlaubt. In der Hauptverhandlung im November 1967 behauptete er, eine Gruppe von bis zu zehn Personen habe ihn in der Krummen Straße umringt, verprügelt und mit Messern angegriffen. Deshalb habe er ein oder zwei Warnschüsse abgegeben; der zweite Schuss habe sich im Handgemenge gelöst und Ohnesorg versehentlich getroffen. Nur einer von 80 vernommenen Zeugen bestätigte diesen Tathergang. Ein Gutachten bescheinigte Kurras eingeschränkte Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit. Dem folgte der Richter und sprach ihn frei, obwohl er von wahrheitswidrigen Einlassungen des Angeklagten ausging.

Otto Schily legte als Vertreter eines der Nebenkläger, Ohnesorgs Vater, erfolgreich Revision gegen das Urteil ein. In der neuen Hauptverhandlung vor dem Landgericht Berlin 1970 wurde Kurras erneut freigesprochen, weil man ihm kein „schuldhaftes Handeln“ nachweisen könne.[63]

Nach einem Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts gab es für den Schlagstockeinsatz vor der Oper keine Rechtsgrundlage. Auch der Einsatz von Greiftrupps sei von vornherein nur zur Konflikteskalation geeignet gewesen. Dennoch wurden nur 13 von 200 angezeigten beteiligten Polizeibeamten angeklagt. Drei Polizeihauptwachtmeister wurden wegen Körperverletzung im Amt zu je sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Die übrigen Verfahren wurden eingestellt: darunter die gegen die drei Polizisten, die Ohnesorg und andere im Innenhof verprügelt hatten.[64] Die Zeugenaussagen dazu wurden bei der Beweisaufnahme nicht berücksichtigt.[65] Drei von sechs angeklagten persischen Geheimdienstbeamten wurden wegen Körperverletzung bestraft. Die übrigen Anzeigen gegen sie, darunter eine wegen Landfriedensbruchs, wurden niedergeschlagen.

45 am 2. Juni festgenommene Studenten wurden meist nach wenigen Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Einige Studenten, die in den Folgetagen wegen Verstößen gegen das Versammlungsverbot festgenommen worden waren, wurden – weitgehend unbeachtet von den Medien – ohne Gerichtsverhandlung zu jeweils drei Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Als Tatbeweis diente ein bei ihnen gefundenes Flugblatt, das den Generalstaatsanwalt zeigte und gegen seinen ungleichen Umgang mit Kurras und dem Studenten Fritz Teufel protestierte.[66] Dieser war als angeblicher Steinewerfer festgenommen worden, wurde wegen Landfriedensbruchs angeklagt und blieb fast sechs Monate lang inhaftiert. In seinem am 27. November eröffneten Prozess konnte sein Anwalt die Vorwürfe widerlegen, so dass er am 22. Dezember 1967 freigesprochen wurde.

Medien

Die Zeitungen des Verlages Axel Springer AG hatten damals 66,5 Prozent Anteil am West-Berliner Zeitungsmarkt. Sie hatten sich im Vorfeld gegen demonstrierende Studenten positioniert. Die Berliner Bild-Zeitung rief die Bevölkerung am 2. Juni 1967 auf: Helft der Polizei, die Störer zu finden und auszuschalten![67] Am 3. Juni berichteten sie nichts von einem Erschossenen, obwohl sechs Journalisten zur Tatzeit am Tatort waren. In einer Teilauflage der Berliner Morgenpost hieß es, gegen Mitternacht sei ein Student im Krankenhaus an den Folgen eines Schädelbruchs gestorben. Der Reporter gab später an, am Vorabend vor Ort nichts von einem Schuss erfahren zu haben.[59]

Die Bildzeitung schrieb unter dem Titel „Blutige Krawalle: 1 Toter“:[68]

„Gestern haben in Berlin Krawallmacher zugeschlagen, die sich für Demonstranten halten. Ihnen genügte der Krach nicht mehr. Sie müssen Blut sehen. Sie schwenken die rote Fahne und sie meinen die rote Fahne. Hier hören der Spaß und die demokratische Toleranz auf. Wir haben etwas gegen SA-Methoden. … Wer bei uns demonstrieren will, soll es friedlich tun. Und wer nicht friedlich demonstrieren kann, der gehört ins Gefängnis.“

Ein Foto dazu zeigte einen blutenden Polizisten.

Der B.Z.-Leitartikel erwähnte ein Todesopfer, aber keine Todesursache. Er schilderte eine „Straßenschlacht“: „Linksradikale Demonstranten“ seien „mit Rauchbomben, Steinen und Eiern gegen die Polizei vorgegangen.“ Ein Foto dazu zeigte eine nachweislich durch Polizeiknüppel am Kopf verletzte Studentin, die von Polizisten abgeführt wird, mit der Bildzeile: Eine blutüberströmte Frau wird in Sicherheit gebracht. Der Kommentator schrieb:[69]

„Die Berliner haben keinen Sinn und kein Verständnis dafür, dass ihre Stadt zur Zirkusarena unreifer Ignoranten gemacht wird, die ihre Gegner mit Farbbeuteln und faulen Eiern bewerfen… Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen.“

Am 4. Juni kommentierte die Berliner Morgenpost den nun bekannt gewordenen tödlichen Schuss: Die Polizei sei daran schuldlos, „Krawallradikale“ hätten die Zusammenstöße provoziert. Der Schuss sei „nach menschlichem Ermessen in Notwehr abgegeben“ worden:[69]

„Benno Ohnesorg ist nicht der Märtyrer der FU-Chinesen, sondern ihr Opfer … Einige Lümmel forderten den Rücktritt von Polizeipräsident Duensing … Das Maß ist nun voll. Die Geduld der Berliner Bevölkerung ist erschöpft. Wir sind es endgültig leid, uns von einer halberwachsenen Minderheit, die noch meist Gastrecht bei uns genießt, terrorisieren zu lassen.“

Alle Zeitungen des Springerverlags stellten den Tathergang ebenso wie Kurras dar: Er sei „von den Demonstranten in einen Hof abgedrängt, dort festgehalten und mit Messern bedroht worden.“[70] Am 5. Juni schrieb die Bildzeitung unter der Schlagzeile „Studenten drohen: Wir schießen zurück“:[71]

„Wenn die Polizei noch einmal auf uns schießt, werden wir zurückfeuern. Wir sind schon dabei, uns zunächst Gaspistolen zu beschaffen.“

Der Autor des Artikels erklärte, Überschrift und angebliches Zitat seien dem Text ohne sein Wissen hinzugefügt worden.

Etwas später kritisierten einige bundesdeutsche Kommentatoren den Polizeieinsatz in West-Berlin. So schrieb Karl Heinz Bohrer in der FAZ am 12. Juni 1967:[72] Die Polizei habe[19]

„… ohne gravierende Notwendigkeit, mit Planung, einer Brutalität Lauf gelassen, wie sie bisher nur aus Zeitungsberichten über faschistische oder halbfaschistische Länder bekannt wurde… Dieselbe Polizei, die am Nachmittag einer […] persischen Prügelgarde zusah, wie sie mit Latten und Totschlägern deutsche Demonstranten anging, sah am gleichen Abend offensichtlich die Stunde gekommen, ihr Mütchen an jenen zu kühlen, die nicht aufhören wollten, den hohen Staatsgästen ihre unroyalistischen Ansichten zu zeigen.

Was der Einsatzleiter befohlen hatte, kommt dem gleich, in einem Kino ein Feuer anzuzünden und die Ausgänge zu verschließen.“

Heinz Grossmann kommentierte am 26. Juni 1967 in der Zeit:[73]

„Man wird sich daran zu gewöhnen haben, dass der Geheimpolizei irgendeines demokratischen Musterlandes – Persiens, Spaniens oder Griechenlands – bei uns die Funktion einer Hilfspolizei zugebilligt wird.“

Im Stern kommentierte Sebastian Haffner die Vorgänge:[74]

„Es war ein systematischer, kaltblütig geplanter Pogrom, begangen von der Berliner Polizei an Berliner Studenten. […] Sie hat sie abgeschnitten, eingekesselt, zusammengedrängt und dann auf die Wehrlosen, übereinander Stolpernden, Stürzenden mit hemmungsloser Bestialität eingeknüppelt und eingetrampelt.“

Nur wenige Journalisten stellten eigene Recherchen zum Tathergang an. Die Zeitschrift konkret veröffentlichte am 7. Juli 1967 unter der Überschrift „Bitte, bitte, nicht schießen!“ Eindrücke von etwa 12 Zeugen der Vorgänge im Hinterhof Krumme Straße 67, die Christa Ohnesorgs Anwalt Horst Mahler gesammelt hatte. Auch der Spiegel, die Zeit und die Frankfurter Rundschau sammelten Zeugenaussagen zum Demonstrationsverlauf. Erst ihre Sonderausgaben machten die studentischen Forderungen in den Folgetagen öffentlich.[75]

Ost-Berliner Zeitungen stellten das Ereignis als vom Senat gewolltes und gedecktes Verbrechen der gesamten Westberliner Polizei dar. So schrieb das SED-Zentralorgan Neues Deutschland auf der Titelseite am 4. Juni, diese habe ein „fürchterliches Blutbad“ unter den Demonstranten angerichtet. Der Folgesatz nannte nur Ohnesorg als Opfer. Die Junge Welt behauptete am 5. Juni, er sei von „der Westberliner Polizei… hinterrücks erschossen“ worden, und sprach von einem „Polizeimassaker“. Die SED-Agitationsabteilung wies alle DDR-Presseorgane am 6. Juni an, Ohnesorg als Opfer eines „Komplotts“ zur „Gleichschaltung Westberlins mit dem verschärften Rechtskurs der Regierung Kiesinger/Strauß“ darzustellen. Man solle alle Details der „ungeheuerlichen Verbrechen in Westberlin“ in Wort und Bild zeigen und dazu ausführlich westliche Quellen zitieren. Das Polizeivorgehen trage „alle Merkmale einer von langer Hand vorbereiteten Eskalation des Terrors“, der außer den Studenten auch „die Werktätigen“ einschüchtern solle. Dieser Maßgabe kamen die DDR-Zeitungen in den Folgetagen nach, indem sie die Brutalität der Westberliner Polizei anhand ausgewählter Zeugenaussagen aus westlichen Zeitungen betonten. Dabei übernahmen sie von den rebellierenden Studenten in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin die These einer „Notstandsübung“, der der Polizeieinsatz gedient und die die „Meinungsfabrik Springer“ mit vorbereitet habe.[76]

West-Berliner Studenten

Am 3. Juni vormittags fanden Studenten die FU-Gebäude verschlossen vor. Einen spontanen Trauerzug Hunderter durch die Innenstadt löste die Polizei mit Hinweis auf das generelle Versammlungsverbot auf. Bis 16:00 Uhr versammelten sich über 6000 Studenten auf dem FU-Gelände. Als starke Polizeikräfte sie umstellten und die gewaltsame Räumung androhten, reagierten sie mit einem Sitzstreik. Daraufhin öffnete Wolfgang Wetzel, der Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, den Studenten die Hörsäle;[77] Albertz zog den Räumungsbefehl zurück.

Rudi Dutschke verlangte dann den Rücktritt von Albertz, Duensing und Büsch, eine „Entfaschisierung“ der West-Berliner Polizei und die Löschung aller behördlichen „schwarzen Listen“ über potentielle politische Oppositionelle. Hintergrund war, dass die Berliner Polizei 1966 dem FU-Rektorat wiederholt Listen mit Personaldaten festgenommener Studenten übergeben hatte, die daraufhin disziplinarisch bestraft und teilweise exmatrikuliert wurden, um die FU zu „befrieden“.[78] Klaus Meschkat forderte die Enteignung des Springerkonzerns aufgrund verfassungsrechtlicher Bestimmungen West-Berlins und des Grundgesetzes. Ohnesorgs Mörder müsse bestraft, Staatsempfänge für Diktatoren müssten verboten werden.

Die Versammelten, darunter einige Prominente und Professoren, stimmten diesen Forderungen zu. Zudem erging ein Appell an alle FU-Angehörigen, für mindestens eine Woche über die „Verschleierung der Tatsachen durch Politiker, Polizei und Presse“, den „faktischen Ausnahmezustand“, „Tendenzen einer bürokratischen Aufhebung der Demokratie“, von den Exekutivorganen „ausgeübten Terror“ und universitäre Möglichkeiten, „die Demokratie in Berlin wiederherzustellen, zu verteidigen und zu entwickeln“, zu diskutieren. Dem stimmten fast alle FU-Fakultäten zu. Aus dem von Studenten geleiteten Lehrbetrieb zu diesen Themen entstand der Plan zur selbstverwalteten „kritischen Universität“, die im folgenden Herbst eingerichtet wurde.[79]

Am 4. Juni gab der AStA der FU eine eigene Presseerklärung heraus:[80]

„Wir stehen fassungslos vor der Lüge der Polizei, die den Mord als Notwehr bezeichnet… Wir stellen unsere Ohnmacht fest, in Anbetracht der meisten Berichte in den Kommunikationsmitteln Berlins. Wir hoffen, daß endlich Journalisten die Wahrheit berichten.“

Am 5. Juni 1967 bildete die FU-Vollversammlung einen „Ermittlungsausschuss“ für die Ursachen, Tatbestände und Konsequenzen der Vorfälle. Dieser bat Zeugen, sich nur bei ihm zu melden und weder bei der Polizei noch vor anderen offiziellen Gremien auszusagen, da man Manipulationen und Strafverfolgung befürchtete. Etwa 600 Personen folgten dem Aufruf. Fast alle widersprachen der polizeilichen Darstellung des Tathergangs. Sie versuchten zudem, Polizisten, die Übergriffe begangen hatten, anhand von Fotos und Wiedererkennung namhaft zu machen und anzuzeigen. Zudem bildeten die FU-Studenten ein „Komitee zur Aufklärung der Bevölkerung“, das Falschdarstellungen von Behörden und Medien zurückwies und eine Gegenöffentlichkeit dazu herzustellen versuchte. Mit in allen Stadtteilen verteilten Flugblättern,[81] Straßenständen und öffentlichen Diskussionen gelang dies zum Teil. Ein „Aktionskomitee zur Organisierung der Trauerfeierlichkeiten“ bereitete mit Christa Ohnesorg zusammen die Überführung und Beerdigung ihres Mannes vor.[82]

Bundesdeutsche Studenten- und Schülerbewegung

Ohnesorgs Erschießung markiert eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Seitdem verbreitete sich die Studentenbewegung auch an den westdeutschen Universitäten.[83] Zudem verbreitete sich nun auch eine bundesweite Schülerbewegung: Am 18. Juni 1967 schlossen sich zunächst 29 an westdeutschen Oberschulen entstandene sozialistische Schülergruppen bei ihrem ersten Bundeskongress in Frankfurt am Main zum „Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler“ (AUSS) zusammen.[84] Der Berliner SDS verfünffachte mit 800 Beitritten seine Mitgliedszahl. Viele westdeutsche Studentengruppen, Jugendorganisationen und Professoren solidarisierten sich mit den Berliner FU-Studenten, gründeten Aktionsgruppen zu den Ursachen und Folgen von Ohnesorgs Tod und protestierten gegen das Verhalten der Berliner Behörden und der Springerpresse. Die Kritik an undemokratischen Tendenzen in der Exekutive und Justiz nahm zu. Als moralischer Protest gewann die antiautoritäre Revolte an Plausibität.[85]

Für viele damalige Studenten war Ohnesorgs Erschießung keine Einzeltat, sondern Ergebnis und vorläufiger Höhepunkt einer zunehmenden Gewaltbereitschaft staatlicher Behörden zur Unterdrückung von Protest für Menschenrechte und Demokratisierung. Sie deuteten die Ereignisse am 2. Juni 1967 als „Notstandsübung“ des Staates gegen kritische Minderheiten:[86]

„Die Polizeimaßnahmen während des Schahbesuchs […] machen deutlich, was uns mit den vorgesehenen Notstandsgesetzen droht.“

Die in den Vorjahren eingeleiteten Kampagnen dagegen und gegen den Axel-Springer-Konzern erhielten starke Unterstützung.[87]

Auf einem Kongress der FU Berlin diskutierten am Abend des 9. Juni in Hannover nach einem Trauermarsch ein Teil seiner Teilnehmer, etwa 5.000, über „Hochschule und Demokratie – Bedingungen und Organisation des Widerstands“, auch über Folgerungen aus Ohnesorgs Tötung und dem Umgang der Behörden und Medien damit. Dort rief Dutschke zur Bildung von Aktionszentren in allen Universitätsstädten auf, die beispielsweise Sitzstreiks gegen Demonstrationsverbote organisieren sollten.[88]

In der Bundesrepublik kam es nun häufiger zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei, so bereits beim Schah-Besuch in Hamburg am 3. Juni 1967. Zugleich nahmen die Aufklärungs- und Reformversuche an den Hochschulen zu. Erstmals gerieten auch die Polizeiausbildung und die von ihr angewandten Methoden in die öffentliche Kritik. 1970 ging daraus eine Reform des Versammlungsgesetzes und der Polizeiausbildung hervor.[89]

Der Todestag Ohnesorgs wurde auch zu einem Bezugspunkt des westdeutschen Terrorismus der 1970er Jahre. So erklärt Ralf Reinders die Namensgebung der im Januar 1972 gegründeten Bewegung 2. Juni wie folgt:[90]

„Alle wußten, was der 2. Juni bedeutet… Mit diesem Datum im Namen wird immer drauf hingewiesen, daß sie zuerst geschossen haben!“

Des Weiteren bekannte sich das „Kommando 2. Juni“ zu dem Sprengstoffanschlag auf das Verlagshaus der Axel Springer AG in Hamburg.

Neue Ermittlungen ab 2009

Am 21. Mai 2009 gaben Mitarbeiter der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen Aktenfunde bekannt, wonach Kurras 1967 SED-Mitglied und „Inoffizieller Mitarbeiter“ des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR gewesen war.[91] Die an der Aktenauswertung beteiligten Wissenschaftler hielten einen Stasi-Auftrag für den Todesschuss aber für „wenig wahrscheinlich“.[92]

Kurras gab seine bis 1967 dokumentierte IM-Tätigkeit zu.[93] Diese löste eine neue Debatte um die Rezeption des Todesschusses aus. Peter Schneider zum Beispiel fragte, „ob die Geschichte der Bundesrepublik nach dem 2. Juni anders verlaufen wäre, wenn die Stasi-Identität von Kurras damals […] bekannt geworden wäre. Ich bejahe diese Frage, aber ich kann sie nur durch Spekulationen stützen.“[94]

Eine vom Berliner Polizeipräsidenten Dieter Glietsch in Auftrag gegebene Universitätsstudie ergab im März 2011, dass Kurras und andere Stasispitzel keinen Einfluss auf Entscheidungen der West-Berliner Polizei gehabt hatten.[95] Eine im Oktober 2009 eingeleitete Ermittlung der Bundesanwaltschaft fand bis August 2011 keine Anhaltspunkte für einen Mordauftrag der Stasi. Die Ermittler widerlegten nochmals die von Kurras behauptete Notwehr, da er nach zuvor unbeachteten Zeugenaussagen und überprüftem Filmmaterial unbedrängt die Waffe gezogen und auf Ohnesorg geschossen hatte.[96] Im November 2011 stellte die Berliner Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen Kurras ein: Die Beweislage reiche nicht zur Neueröffnung eines Verfahrens wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Tötung Ohnesorgs aus.[97] Vermutungen, Ohnesorg sei im Stasiauftrag erschossen worden, um die Studentenbewegung zu radikalisieren, halten Medienkommentatoren aufgrund neuer Indizien für seine „gezielte Exekution“ und deren Vertuschung durch West-Berliner Polizisten seit Januar 2012 für obsolet.[98]

Gedenken

Am 8. Juni 1967 stellten Studenten vor der Oper ein Holzkreuz zum Gedenken an Ohnesorg auf, das die Polizei entfernte. In der Nacht des 17. Juni 1967 benannten einige SDS-Mitglieder, darunter Rudi Dutschke, die Straße des 17. Juni vorübergehend in „Straße des 2. Juni“ um.

1971 schuf der Bildhauer Alfred Hrdlicka das Bronzerelief „Der Tod des Demonstranten“, das erst 1990 vor der Deutschen Oper aufgestellt werden durfte. Auf der im Sockel eingelassenen Gedenktafel in der Bismarckstraße 35 steht:[99]

„Am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg im Hof des Hauses Krumme Straße 66 während einer Demonstration gegen den tyrannischen Schah des Iran von einem Polizisten erschossen. Sein Tod war ein Signal für die beginnende studentische und außerparlamentarische Bewegung, die ihren Protest gegen Ausbeutung und Unterdrückung besonders in den Ländern der Dritten Welt mit dem Kampf um radikale Demokratisierung im eigenen Land verband. Unter diesem Eindruck schuf Alfred Hrdlicka 1971 das Relief 'Der Tod des Demonstranten' Dezember 1990“

Wiglaf Droste und Michael Stein gründeten 1991 das Benno-Ohnesorg-Theater für satirische Lese- und Liederabende. In Hannover-Linden-Mitte erinnert seit 1992 die Benno-Ohnesorg-Brücke über die Ihme an den Studenten. Die Benno-Ohnesorg-Brücke in Hannover-Linden

Zum 30. Todestag Ohnesorgs 1997 widmete sich ein dreitägiger Ohnesorg-Kongress in der TU Berlin dem Rückblick auf Entwicklung und Wirkung der Studentenbewegung.[100]

Der Schriftsteller Uwe Timm setzte seinem ehemaligen Braunschweiger Mitschüler 2005 mit der Erzählung Der Freund und der Fremde ein literarisches Denkmal.[101]

Zum 40. Todestag Ohnesorgs veröffentlichte Uwe Soukup ein Buch zum 2. Juni 1967, für das er fünf Jahre lang den Tathergang recherchiert, Zeugen befragt, Bild-, Ton- und Schriftdokumente gesammelt und ausgewertet hatte. In vielen Medien erschienen Rückblicke, verbunden mit Warnungen vor ähnlicher Gewalteskalation bei Demonstrationen zum G8-Gipfel in Heiligendamm 2007. Die Berliner Polizei ehrte Ohnesorg am 2. Juni 2007 erstmals bei einer Gedenkfeier an der Deutschen Oper mit einem Kranz.[102]

Die Bezirksverordnetenversammlung von Charlottenburg-Wilmersdorf forderte die Bezirksverwaltung zweimal mehrheitlich auf, den Platz am nordöstlichen Eingang des U-Bahnhofs Deutsche Oper (Ecke Krumme Straße/Bismarckstraße) Benno-Ohnesorg-Platz zu nennen. Der CDU-Baustadtrat Klaus-Dieter Gröhler verweigerte dies zusammen mit dem Stiftungsrat der Oper, die Eigentümerin des Platzes ist, und der Kulturverwaltung im Roten Rathaus bisher.[103][104]

Am Ort des Todesschusses fehlte über 40 Jahre lang jeder Hinweis auf das Ereignis.[105] Am 12. Dezember 2008 enthüllten Vertreter der Stadt Berlin und Charlottenburgs eine Informationstafel vor dem Haus in der Krummen Straße.[106]


Text: Wikipedia

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