Boethius

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Anicius Manlius Severinus Boethius ([boˈeːt(s)iʊs], auch Boëthius geschrieben; * um 480/485; † im Zeitraum von 524 bis 526 entweder in Pavia oder in Calvenzano in der heutigen Provinz Bergamo) war ein spätantiker römischer Gelehrter, Politiker, neuplatonischer Philosoph und Theologe. Seine Tätigkeit fiel in die Zeit der Herrschaft des Ostgotenkönigs Theoderich, unter dem er hohe Ämter bekleidete. Er geriet in den Verdacht, eine gegen die Ostgotenherrschaft gerichtete Verschwörung von Anhängern des oströmischen Kaisers zu begünstigen. Daher wurde er verhaftet, als Hochverräter verurteilt und hingerichtet.

Boethius bemühte sich, ein ehrgeiziges Bildungsprogramm zu verwirklichen. Er beabsichtigte, sämtliche Werke Platons und des Aristoteles als Grundtexte der griechischen philosophischen und wissenschaftlichen Literatur in lateinischer Übersetzung zugänglich zu machen und zu kommentieren.[1] Daneben verfasste er Lehrbücher. Damit wollte er den Kernbestand der überlieferten Bildungsgüter für die Zukunft sichern, da die Griechischkenntnisse im lateinischsprachigen Westen Europas stark abgenommen hatten. Überdies hatte er vor, anschließend die Übereinstimmung zwischen Platon und Aristoteles aufzuzeigen, die er gemäß der damals vorherrschenden Auffassung annahm. Wegen seines vorzeitigen Todes blieb das gewaltige Vorhaben zwar unvollendet, doch wurde er zum wichtigsten Vermittler der griechischen Logik, Mathematik und Musiktheorie an die lateinischsprachige Welt des Mittelalters bis ins 12. Jahrhundert. Die stärkste Nachwirkung erzielte seine während der Haftzeit entstandene Schrift Consolatio philosophiae („Der Trost der Philosophie“), in der er seine Vorstellungen zur Ethik und Metaphysik darlegte. Außerdem verfasste er theologische Traktate.

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Leben

Herkunft, Jugend und Aufstieg

Die vier Namen des Boethius und ihre Reihenfolge sind gut bezeugt. Der angebliche weitere Name Torquatus ist nicht authentisch.[2] Mütterlicherseits entstammte Boethius, wie sein Name Anicius zeigt, dem seit dem 4. Jahrhundert christlichen Geschlecht der Anicier, das in der Spätantike zu den einflussreichsten Senatorenfamilien zählte.

Wahrscheinlich wurde Boethius in den frühen achtziger Jahren des 5. Jahrhunderts geboren; ein abweichender Datierungsvorschlag (zwischen 475 und 477) hat sich nicht durchgesetzt.[3] Der Geburtsort ist unbekannt; die Vermutung, dass es Rom ist, entbehrt einer guten Begründung.[4] Sein Großvater (oder Urgroßvater?) war unter Valentinian III. Prätorianerpräfekt gewesen und wurde im September 454 im Zusammenhang mit dem Mord an Flavius Aëtius getötet. Sein Vater Manlius Boethius wurde später ebenfalls Prätorianerpräfekt, Stadtpräfekt von Rom und im Jahre 487 Konsul ohne Kollegen; er muss bald nach seinem Konsulat gestorben sein, denn Boethius ist vaterlos aufgewachsen. Nach dem Tod des Vaters fand Boethius Aufnahme im Haus des Quintus Aurelius Memmius Symmachus, des Konsuls von 485, der dem berühmten senatorischen Geschlecht der Symmachi angehörte und als Philologe und Geschichtsschreiber tätig war.

Boethius erhielt eine vorzügliche Ausbildung. Wegen der damals vielleicht bereits begrenzten Bildungsmöglichkeiten in Rom wird in der Forschung die Vermutung erörtert, dass er sich zu Studienzwecken im Oströmischen Reich aufgehalten hat. Dabei wird Athen als Studienort in Betracht gezogen, doch fehlt es dafür an überzeugenden Anhaltspunkten. Parallelen zwischen Boethius’ Kommentierweise und Argumentation und derjenigen der neuplatonischen Schule von Alexandria sollen alternativ die Vermutung stützen, dass er dort studiert habe, doch ist diese von Pierre Courcelle vorgetragene Hypothese kaum zu belegen, und die Nähe zur alexandrinischen Tradition wird von anderen Forschern bestritten.[5] Nach seiner Studienzeit heiratete Boethius Symmachus’ Tochter Rusticiana. Er verehrte seinen Schwiegervater, der – einer Familientradition folgend – die herkömmliche römische Bildung intensiv pflegte. Schon früh begann Boethius mit der Abfassung seiner wissenschaftlichen Werke und erlangte Ruhm als Gelehrter.

Auch in der Politik spielte Boethius eine wichtige Rolle; er stieg zu höchsten Staatsämtern auf. Spätestens 507 erhielt er den hohen Ehrentitel patricius, 510 war er Konsul ohne Kollegen. Für das Jahr 522 wurden seine beiden Söhne Symmachus und Flavius Boethius, obwohl sie noch nicht erwachsen waren, von König Theoderich zu Konsuln bestimmt. Dies setzt zwingend das Einverständnis des oströmischen Kaisers Justin I. voraus, dem die Besetzung einer der beiden Konsulstellen zustand und der überdies nicht nur den östlichen, sondern auch den westlichen Konsul formal einzusetzen hatte. Boethius hielt anlässlich des Konsulatsantritts seiner Söhne im Senat eine Lobrede auf den Gotenkönig. Im selben Jahr stellte ihn Theoderich an die Spitze der Reichsverwaltung, indem er ihn zum magister officiorum ernannte. Damit erreichte Boethius den Höhepunkt seiner politischen Macht. In seiner eigenen Darstellung erscheint seine Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung als vorbildlich. Er behauptet, sich ausschließlich für das Gemeinwohl aller Guten eingesetzt zu haben; als Kämpfer gegen das Unrecht habe er sich die Feindschaft unredlicher Mächtiger zugezogen. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass ihm sein energisches Vorgehen und selbstbewusstes Auftreten einflussreiche Gegner einbrachte.[6]

Sturz und Tod

Wichtige Einzelheiten der Umstände, die zur Amtsenthebung, Verhaftung und Hinrichtung des Boethius führten, sind nicht überliefert, nur aus seiner eigenen Darstellung bekannt oder gehen aus den Quellen nicht eindeutig hervor. Die Hintergründe, die juristische Beurteilung und die politische Einschätzung des Gerichtsverfahrens sind seit langem ein kontrovers diskutiertes Thema der Forschung. Der Hauptfaktor war jedenfalls die Spannung zwischen dem oströmischen Kaisertum und dem in Ravenna residierenden Ostgotenkönig. Dieser Gegensatz spiegelte sich in der Bildung zweier rivalisierender Richtungen unter den politisch aktiven Römern (oder Italikern, wie die romanische Bevölkerung Italiens nach dem Ende des Weströmischen Reichs auch genannt wird).

Vorgeschichte

Theoderich war mit seinen ostgotischen foederati 489 im Auftrag des oströmischen Kaisers Zenon nach Italien gekommen, um dort die Herrschaft Odoakers zu beenden, der 476 das Ende des weströmischen Kaisertums herbeigeführt hatte. Nach Zenons Tod war es zu Konflikten mit seinem Nachfolger Anastasius gekommen, und obwohl dieser 497/8 Theoderichs Machtstellung formell anerkannte, musste der Gote stets einen Versuch der Oströmer befürchten, ihn zu beseitigen und Italien wieder unter ihre direkte Kontrolle zu bringen, denn sie hielten immer am Fortbestand des Römischen Reichs auch im Westen und an ihrem Anspruch auf Oberherrschaft in Italien fest.[7]

Zu dieser machtpolitischen Rivalität kam der religiöse Gegensatz hinzu. Die Römer Italiens waren ebenso wie die Mehrheit der Oströmer Anhänger des Nicäno-Konstantinopolitanums, während sich die Ostgoten zum Arianismus bekannten. Für traditionsbewusste Römer kam außer ihrer politischen Gesinnung und persönlichen Gründen auch ihre religiöse Überzeugung als Motiv für eine Opposition gegen Theoderich in Betracht. Somit konnte am Königshof leicht der Verdacht entstehen, dass diese Kreise eine Vernichtung des Ostgotenreichs durch den Kaiser erhofften und mit ihm konspirierten. Daher befanden sich politisch exponierte Römer, die als kaiserfreundlich galten, in einer potenziell heiklen Lage. Bei einer Zuspitzung des latenten Gegensatzes zwischen den Höfen von Ravenna und Konstantinopel konnten sie in einen Loyalitätskonflikt oder zumindest in den Verdacht mangelnder Loyalität zum König geraten.[8]

Als es 484 zwischen der östlichen und der westlichen Kirche zu einer Spaltung kam (Akakianisches Schisma), führte diese Entfremdung zwischen dem Westen und dem Osten zu einer Verminderung des Konfliktpotenzials zwischen den römischen und den germanischen Untertanen Theoderichs.[9] 498 traten die Bruchlinien aber wieder deutlich hervor, als sich nach einer zwiespältigen Papstwahl der von Theoderich unterstützte Kandidat Symmachus gegen seinen von den Oströmern favorisierten Gegner Laurentius durchsetzen konnte. Im römischen Senat hatten kaiserlich gesinnte Politiker für Laurentius Partei ergriffen.[10] Die ostromfreundliche Richtung bestand vor allem aus Angehörigen alter, konservativer Senatorengeschlechter. Dies war das Milieu, dem die Familie des Boethius und die mit ihr befreundeten und verschwägerten Sippen angehörten.[11]

Nach dem Regierungsantritt des oströmischen Kaisers Justin I. wurde im Jahr 519 das Akakianische Schisma beendet und die Kirchengemeinschaft zwischen Konstantinopel und Rom wiederhergestellt. Damit war Theoderich zunächst einverstanden; er wünschte ein gutes Verhältnis zum Kaiser, auch unter dem Gesichtspunkt der oströmischen Anerkennung für eine Regelung seiner Nachfolge, denn er hatte keinen Sohn und der Fortbestand der Dynastie hing von seiner Tochter Amalasuntha und deren Nachkommen ab. Noch 519 erreichte er, dass der Kaiser seinen Schwiegersohn Eutharich als "Waffensohn" annahm und so als designierten Nachfolger anerkannte. Kirchenpolitisch verstärkte die in diesem Jahr erzielte Einigung jedoch die Isolation der arianischen Ostgoten in Italien, was sich für sie im Fall eines oströmischen Angriffs nachteilig auswirken konnte.[12] Eine wichtige Rolle spielte in der oströmischen Politik schon damals der künftige Nachfolger Justins, Justinian,[13] der dann weniger als ein Jahrzehnt nach Theoderichs Tod tatsächlich die Invasion Italiens beginnen sollte. Von Justinian ging mutmaßlich die Initiative zur Besetzung beider Konsulstellen mit den Söhnen des Boethius im Jahr 522 aus; damit konnte er sich in ostromfreundlichen Senatskreisen Italiens zusätzliche Sympathien verschaffen.[14]

Die Gegner dieser ostromfreundlichen Richtung, die den Sturz des Boethius herbeiführten, waren nicht etwa Goten, sondern progotische Römer. Sie waren dem Gotenkönig ergeben, da sie ihm ihre Karriere verdankten; Theoderich hatte solchen Römern Schlüsselstellungen anvertraut, um ein Gegengewicht zu den kaiserfreundlichen Senatskreisen zu schaffen. Sie hatten von einem Regimewechsel in Italien nichts zu erhoffen und betrachteten das Oströmische Reich als feindliche Macht.[15] Schon im weströmischen Reich des 5. Jahrhunderts war die Spaltung des Senats und des Hofes in zwei verfeindete, miteinander um die Macht ringende Gruppierungen ein typisches Merkmal der politischen Verhältnisse gewesen, sie war nicht erst mit der Errichtung der gotischen Herrschaft eingetreten.[16] Allerdings verschärfte sich die Polarisierung, als sich Theoderichs Verhältnis zu Ostrom in den letzten Jahren seiner Herrschaft verschlechterte.

Ablauf der Ereignisse

Als Eutharich starb (wohl 522 oder 523), schwächte dies die Stellung Theoderichs, der nun keinen erwachsenen Nachfolger mehr hatte, und verstärkte die politische Unruhe. In diese Phase fiel der Beginn der Ereigniskette, die zum Tod des Boethius führte: Ein Parteigänger der königstreuen Römer fing Briefe ab, die der Senator Flavius Albinus iunior an den Kaiser gerichtet hatte.[17] Der Inhalt der Briefe ist unbekannt, doch ist nicht zu bezweifeln, dass er für den Absender kompromittierend war. Vermutlich wurden Themen wie die nun wieder überaus heikle ostgotische Nachfolgefrage aus der Sicht der ostromfreundlichen Senatoren erörtert.[18] Der Ablauf der anschließenden Vorgänge ist umstritten. Einer Interpretation zufolge versuchte Boethius, dem die königliche Verwaltung unterstand, das Beweismaterial zu unterdrücken und so die Angelegenheit zu vertuschen, um Albinus zu decken. Diese Absicht wurde aber von einem seiner Untergebenen, dem referendarius Cyprianus, der auf der Gegenseite stand, vereitelt. Nach einer anderen Deutung hat Boethius das Belastungsmaterial zwar dem König verschwiegen, aber auch nicht versucht, Cyprianus an einer Vorsprache bei Theoderich zu hindern. Jedenfalls legte Cyprianus die Briefe dem König, der sich zu dieser Zeit in Verona aufhielt, vor.[19] Die ostromfeindlichen Kreise am Hof sahen darin Belege für hochverräterische Beziehungen des Albinus und seiner Gesinnungsgenossen zum Kaiser.[20] Der König ließ Albinus verhaften. Nun solidarisierte sich Boethius öffentlich vor dem König mit dem Beschuldigten, indem er erklärte, wenn Albinus etwas getan haben sollte, dann hätten er – Boethius – und der ganze Senat es ebenfalls getan.[21] Damit aber hatte Boethius die Lage und seinen Einfluss falsch eingeschätzt. Cyprianus sah sich gezwungen, auch Boethius in die Anklage einzubeziehen, schon um seine eigene Stellung nicht zu gefährden.[22] Boethius verlor seine Stellung am Hof und wurde in Verona unter Hausarrest gestellt.

Der König ließ die Vorgänge in Abwesenheit des Boethius untersuchen. Dabei wurde der Angeklagte durch die Aussagen mehrerer seiner Untergebenen belastet. Außerdem wurden Briefe vorgelegt, in denen er sich für die Freiheit Roms – also gegen die gotische Herrschaft – aussprach; nach seiner Darstellung handelte es sich um Fälschungen.[23] Der Senat lehnte es ab, offiziell zu seinen Gunsten Stellung zu nehmen; nur eine kleine Gruppe von Freunden, darunter sein Schwiegervater, trat für ihn ein. Er wurde nach Pavia gebracht, wohl weil er unter seinen Standesgenossen in Rom noch einigen Rückhalt hatte, während Norditalien eine Hochburg seiner Gegner war.[24] Für ein gewöhnliches Hochverratsverfahren wäre das Gericht des Königs unter dessen Vorsitz zuständig gewesen. Theoderich zog es aber angesichts des hohen Ranges des Angeklagten vor, den Fall dem Senatsgericht zu übergeben, das für Kapitalprozesse gegen Senatoren zuständig war. Den Vorsitz in diesem Standesgericht aus fünf Senatoren (iudicium quinquevirale) hatte der Stadtpräfekt Eusebius.[25] Der Ostgotenkönig ließ vermutlich keinen Zweifel daran, dass er einen Schuldspruch wünschte, hielt sich aber offiziell zurück. Das Gericht verurteilte Boethius in Abwesenheit zum Tode und ordnete die Konfiskation seiner Güter an.

Die Chronologie ist umstritten. Nach der traditionellen Datierung, die weiterhin Befürworter hat, wurde Boethius bereits 523 verhaftet und 524 oder spätestens 525 hingerichtet. Manche Forscher folgen aber einem abweichenden Ansatz, den Charles H. Coster vorgeschlagen hat, wonach die Verhaftung 525 und die Vollstreckung des Todesurteils erst 526, kurz vor Theoderichs Tod, erfolgte.[26] Die Hinrichtung wurde standesgemäß mit dem Schwert vollzogen, entweder in Pavia (was wahrscheinlicher ist) oder in Calvenzano östlich von Mailand (Provinz Bergamo).[27] Der Sarkophag befindet sich in der Kirche San Pietro in Ciel d’Oro (Pavia). Bei der vom Anonymus Valesianus überlieferten Behauptung, Boethius sei erst gefoltert und dann mit einem Knüppel erschlagen worden,[28] handelt es sich um eine Erfindung; sie stammt aus einer unbekannten Schrift eines Gegners Theoderichs, auf die sich der Anonymus im zweiten Teil seiner Darstellung der Regierungszeit des Königs stützt.[29] Auch Symmachus, der Schwiegervater des Boethius, wurde hingerichtet.

Der Sturz des Boethius führte zu einem Umschwung in Theoderichs Personalpolitik; am Hof wurde der Ankläger Cyprianus zum Leiter der Finanzverwaltung befördert.[30] An die Spitze der Reichsverwaltung berief der König Cassiodor, der wie Boethius ein bedeutender römischer Gelehrter, aber politisch unverdächtig war.

Später gab Theoderichs Tochter Amalasuntha, die nach dem Tod ihres Vaters die Regentschaft übernommen hatte, der Familie des Boethius das konfiszierte Vermögen zurück. Nach der oströmischen Invasion Italiens soll Boethius’ Witwe Rusticiana dafür gesorgt haben, dass die oströmischen Feldherren die bildlichen Darstellungen Theoderichs beseitigten.[31]


Text: Wikipedia

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