Hilde Benjamin

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Hilde Benjamin um 1947

Hilde Benjamin, geb. Lange (* 5. Februar 1902 in Bernburg; † 18. April 1989 in Berlin) war Rechtsanwältin und nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR Justizministerin und Vorsitzende Richterin in einer Reihe von politischen Schauprozessen während des Kalten Krieges in den 1950er Jahren.

Kindheit und Ausbildung

Hilde Benjamin wuchs als Tochter des Ingenieurs Heinz Lange und seiner Frau Adele in Berlin auf. Hilde Benjamin war Schülerin der Sachsenwald- und Fichtenbergschule in Berlin-Steglitz und bestand 1921 das Abitur. Ihr in einem evangelischen, kulturell interessierten Elternhaus schon früh gewecktes Interesse für klassische Musik und Literatur pflegte sie während ihres gesamten Lebens. Sie war Mitglied der Wandervogel-Bewegung, die 1896 in Steglitz gegründet worden war.:S.64

Sie studierte nach dem Abitur als eine der ersten Frauen von 1921 bis 1924 Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie in Heidelberg und Hamburg. Eine Dissertation bei Moritz Liepmann über Strafvollzugsfragen beendete sie nicht.

Ihr Vater arbeitete als kaufmännischer Angestellter für die Solvay-Werke in Bernburg, bevor er mit seiner Familie nach Berlin wechselte, wo er Leiter einer Tochterfirma wurde.:S.38 Hildes Schwester, Ruth Lange, wirft mehrfach Weltrekord im Kugelstoßen und wird 1927 Deutsche Meisterin.

Weimarer Republik

Nach Referendars- und Assessorexamen ließ sie sich 1928 als Rechtsanwältin im Berliner Arbeiterbezirk Wedding nieder, wo ihr sieben Jahre älterer Mann Georg, den sie 1926:S.64 geheiratet hatte, bereits als Arzt und Kommunist wirkte. Sie tritt aus der SPD aus und folgt ihrem Mann Georg Benjamin in die KPD. Benjamin unterrichte neben ihrer Arbeit in der Marxistischen Arbeiterschule, und engagiert sich in der Straßenzelle, eine der Grundorganisationen der KPD. 1929 war sie nebenberuflich im Zentralvorstand der Roten Hilfe Deutschland tätig. Als Rechtsanwältin in einer Laufpraxis[2]:S.65 vertrat sie Streitfälle, meist Scheidungssachen, Mietstreitigkeiten und Beleidigungsklagen, aber auch Kündigungsschutzklagen vor den Arbeitsgerichten und Strafsachen von Arbeitern wegen Streikbeteiligung. Größere Aufmerksamkeit erregte ihre Verteidigung der angeklagten Vermieterin im Streit mit der Freundin und Prostituierten im Mordfall des Nationalsozialisten Horst Wessel.

1926 heiratete sie den Arzt Georg Benjamin, den Bruder des Schriftstellers und Philosophen Walter Benjamin und Bruder ihrer Freundin Dora Benjamin. 1932 wurde ihr Sohn Michael geboren.

Zeit des Nationalsozialismus

Nach Berufsverbot 1933 und Verschleppung ihres Mannes in das Konzentrationslager Sonnenburg direkt nach dem Reichstagsbrand, zog Hilde Benjamin mit ihrem Sohn arbeitslos zu ihren Eltern in die Dünther Straße in Berlin-Steglitz. Jede anwaltliche Tätigkeit wurde ihr in einem so genannten Vertretungsverbot untersagt, welches von dem späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs und seinerzeitigem Staatssekretär des preußischen Justizministeriums Roland Freisler unterschrieben war. Kurz vor Weihnachten 1933 wurde ihr Mann Georg freigelassen. Es gelang ihr, als juristische Beraterin der sowjetischen Handelsgesellschaft in Berlin Arbeit zu finden.

Von 1939 bis 1945 war sie in der Konfektionsindustrie dienstverpflichtet. Da ihr Sohn nach den Nürnberger Rassegesetzen als Jüdischer Mischling galt, durfte er keine höhere Schule besuchen und wurde von seiner Mutter unterrichtet. Ihr Mann wurde am 14. Mai 1936 erneut verhaftet und wegen Übersetzung ausländischer Pressetexte vom Berliner Kammergericht wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu sechs Jahren Zuchthaus in Brandenburg verurteilt. Ihr Schwager Walter Benjamin ging 1940 auf der Flucht vor der Gestapo an der französisch-spanischen Grenze in den Freitod. Ihr Mann starb 1942 im KZ Mauthausen. Ihre Schwägerin und Jugendfreundin, die promovierte Volkswirtschaftlerin Dora Benjamin verstarb nach aufzehrender, mittelloser und dramatischer Flucht 1946 in der Schweiz.

SBZ und DDR

Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in der Zentralverwaltung für Justiz tätig. Im Jahr 1946 wurde sie Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Von 1949 bis 1953 war sie Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR, von 1949 bis 1967 Abgeordnete der Volkskammer und von 1954 bis 1989 Mitglied des Zentralkomitees der SED. Ab 1953 war sie Justizministerin der DDR.

Hilde Benjamins Mutter Adele Lange, zu der sie zeitlebens ein gutes Verhältnis unterhielt, lebte bis zu ihrem Lebensende 1952 in West-Berlin.:S.43ff Ihr Bruder Heinz wurde Ingenieur in der DDR.

17. Juni 1953

Während des Volksaufstands am 17. Juni 1953 forderten Demonstranten in Sprechchören die Absetzung und Inhaftierung Benjamins. Nachdem russische Panzer den Aufstand erstickt hatten, leitete Benjamin ab dem 20. Juni einen Operativstab, dem in Abstimmung mit dem Politbüro der SED die Überwachung sämtlicher Strafverfahren im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 oblag. Zuständig waren die eigens dafür unter Benjamins Anleitung einschließlich der Pflichtverteidiger aus SED-treuen Juristen gebildeten Strafsenate in den Bezirken der DDR.

Nach dem Aufstand kam es in der SED zu einer „Säuberung“: Viele gemäßigte politische Ansichten vertretende Parteimitglieder wurden aus der SED entfernt (viele von ihnen waren frühere SPD-Mitglieder und durch die Vereinigung von SPD und KPD in die SED geraten). Einigen Parteifunktionären und Angehörigen der Volkspolizei warf die SED-Führung „versöhnlicherisches, kapitulantenhaftes und unkämpferisches Verhalten“ vor. Der Justizminister Max Fechner, der nach dem 17. Juni mäßigend auf die Strafjustiz einwirken wollte, wurde am 14. Juli 1953 seiner Funktion enthoben, wegen „partei- und staatsfeindlichen Verhaltens“ aus der SED ausgeschlossen und nach zwei Jahren Untersuchungshaft 1955 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Hilde Benjamin wurde am 15. Juli 1953 Nachfolgerin von Fechner.

Mauerbau

In der DDR gab es durch den Bau der Mauer am 13. August 1961 eine grundlegend neue Situation: Auswandern bzw. Flucht in den Westen war nun nicht mehr möglich; die Menschen mussten sich mit den gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten arrangieren, siehe auch Chronik der DDR (1961–1970) und Chronik der DDR (1971–1980).

Infolge einer zweiten, von Chruschtschow im Oktober 1961 angestoßenen Entstalinisierungswelle wurde Benjamin von Ulbricht „fortschrittsfeindlicher Umtriebe“ bezichtigt. Trotz „prinzipieller Korrekturen“ gebe es in der DDR-Justiz „noch immer Erscheinungen des Dogmatismus“. Benjamin wehrte sich und warnte, der Verzicht auf stalinistische Rechtspraktiken werde dem westlichen Klassenfeind Tür und Tor öffnen. 1962/63 kam es zu einigen Lockerungen und Reformen. Benjamin blieb bis kurz nach der Volkskammerwahl am 2. Juli 1967 Justizministerin; dann schickte Ulbricht sie im Alter von 65 in den Ruhestand, offiziell aus „gesundheitlichen Gründen“[10] und zur Verjüngung des Ministerrats. Justizminister wurde danach Kurt Wünsche. Im Jahr 1966 wurde der Stasi durch Verhöre der aufgeflogenen CIA-Agentin Gertrud Liebing bekannt, dass Frau Benjamin einem lesbischen Kreis angehört.

Tätigkeit als Richterin

Benjamin sorgte mit ihrem Konzept der sogenannten Volksrichter in der frühen DDR dafür, dass Rechtsprechung, wenn auch zögerlich und oft angreifbar, weiter möglich war.[4]:S.114 Benjamin war zunächst bei den Waldheimer Prozessen beratend beteiligt. Später war sie Vorsitzende in insgesamt 13 Prozessen gegen Oppositionelle, Sozialdemokraten und andere. Dazu gehören der Solvay-Prozess in Bernburg und der Dessauer Schauprozess von 1950. Anders als die Bundesrepublik hatte die DDR die Todesstrafe bis dahin nicht abgeschafft, und Benjamin fällte von 1949 bis 1953, neben Zuchthausstrafen von insgesamt 550 Jahren und 15-mal lebenslänglich, zwei Todesurteile[13][14] (gegen Johann Burianek und Wolfgang Kaiser). Deshalb wurde sie in westlichen Zeitschriften auch die „Rote Guillotine“, „Rote Hilde“ oder „Blutige Hilde“ genannt. In der DDR hatte sie den Spitznamen Russin, wegen ihrer für russische Frauen typischen hochgesteckten Zopffrisur.

Staats- und Familienrechtlerin

Hilde Benjamin schrieb als Leiterin der Gesetzgebungskommission beim Staatsrat der DDR mit dem Gerichtsverfassungsgesetz, dem Jugendgerichtsgesetz und der Strafprozessordnung von 1952 Rechtsgeschichte in der DDR. Sie war 1963 Vorsitzende der Kommission zur Ausarbeitung des neuen Strafgesetzbuches. Bereits seit dem Beginn ihrer Karriere setzte sie sich für die Gleichberechtigung der Frauen ein, etwa als Mitbegründerin des Demokratischen Frauenbundes der DDR. Der erste Entwurf eines Familiengesetzes 1965 ging auf sie zurück, worin die Gleichstellung nichtehelicher Kinder hergestellt, das Scheidungs- und Namensrecht reformiert und die Berufstätigkeit der Frauen gefördert werden sollte.

Im Jahr 1967 übernahm sie als Professorin den Lehrstuhl „Geschichte der Rechtspflege“ an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ in Potsdam-Babelsberg, den sie bis zu ihrem Tod innehatte.

Benjamin wurde in der DDR vielfach ausgezeichnet: 1955 und 1962 mit dem Vaterländischen Verdienstorden, 1967 mit der Ehrenbürgerschaft der Stadt Bernburg, 1972 mit der Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden, 1977 und 1987 mit dem Karl-Marx-Orden, 1979 als Verdiente Juristin der DDR und 1982 mit dem Stern der Völkerfreundschaft. 1952 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität. Ihre Urne wurde in der Grabanlage Pergolenweg der Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde beigesetzt.

Wertungen

Der Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig Rudolf Wassermann setzte 1994 Hilde Benjamin und Roland Freisler als „Exponenten totalitärer Justiz“ gleich. Roman Herzog meinte in seiner Antrittsrede als Bundespräsident am 1. Juli 1994 zur Frage der deutschen Nation: „Man kann nicht Hitler gegen Beethoven aufrechnen oder Himmler gegen Robert Koch oder Hilde Benjamin gegen Grundgesetz und Rechtsstaat.“ Benjamin ist für die Justizmorde an Erna Dorn und Ernst Jennrich verantwortlich, die sie als Ministerin angeordnet hat.


Adresse: Majakowskiweg 59 in Berlin-Pankow

Text: Wikipedia

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Bild: Wikimedia/Deutsche Fotothek

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