Jean-Jacques Rousseau

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Jean-Jacques Rousseau (* 28. Juni 1712 in Genf; † 2. Juli 1778 in Ermenonville bei Paris) war ein Genfer Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist der Aufklärung. Rousseau hatte großen Einfluss auf die Pädagogik und die politische Theorie des späten 18. sowie des 19. und 20. Jahrhunderts in ganz Europa. Er war ein wichtiger Wegbereiter der Französischen Revolution. Sein Werk ist unlösbarer Bestandteil der französischen und europäischen Literatur- und Geistesgeschichte. Der ihm häufig – aber fälschlich – zugeschriebene Aufruf „Zurück zur Natur!“ hat viele Wissenschaftler geprägt und spätere Gegenbewegungen zur Industrialisierung ausgelöst.

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Leben und Schaffen

Familie

Rousseaus Vater Isaac lebte von 1672 bis 1748 und war ein Uhrmacher und Forscher, dessen protestantische Vorfahren aus Glaubensgründen von Frankreich in die damals unabhängige Stadtrepublik Genf ausgewandert waren.

Von 1705 bis 1711 lebte Isaac Rousseau in Konstantinopel, wo er als Uhrmacher des Sultans am Serail (dem Palast des osmanischen Herrschers) Genfer Uhren reparierte. Sein Cousin Jacques Rousseau (1683–1753, Vater des französischen Orientalisten Jean-François Xavier Rousseau), folgte ihm von Genf zwischenzeitlich als Hofjuwelier nach Konstantinopel.

Rousseaus Mutter Suzanne Bernard (1673–1712) war Tochter eines Genfer Pastors. Das Paar lebte bei Jean-Jacques Rousseaus Geburt im Haus ihres Vaters im Zentrum von Genf.[1]

Kindheit

Die Mutter starb 1712 in Genf, neun Tage nach Rousseaus Geburt – wahrscheinlich am Kindbettfieber.[1][2] In der Folge übernahm eine jüngere Schwester des Vaters den Haushalt. Sie kümmerte sich liebevoll um das oft kränkelnde und empfindsame Kind, das seit seiner Geburt an einem organischen Fehler der Harnblase litt. Diese andauernde körperliche Belastung wird oft als einer der Gründe für die empfindliche Gereiztheit angesehen, die Rousseau zeit seines Lebens charakterisierte.

Der Vater förderte schon früh die Leselust seines Sohnes, indem er nächtelang gemeinsam mit ihm las, unter anderem die Biographien Plutarchs, die lebenslang Rousseaus Lieblingslektüre bildeten.[3] 1718 zogen Vater und Sohn in das ärmere Handwerkerviertel St. Gervais auf der anderen Rhoneseite.

1722 änderte sich die Situation des Zehnjährigen drastisch. Der Vater flüchtete nach einer Rauferei mit einem Offizier, in dessen Verlauf er diesen mit einem Degenstich verletzt hatte,[3] aus Genf vor der drohenden Gefängnisstrafe. Den Sohn ließ er in der Obhut seines Schwagers, Gabriel Bernard, zurück.[3] Während der nächsten zwei Jahre lebte Rousseau bei Pfarrer Lambercier in Bossey (Waadt), wo er Unterricht erhielt, aber unter ungerechter Bestrafung und körperlicher Misshandlung litt. Ähnlich erging es ihm später während eines Aufenthalts bei einer Tante väterlicherseits. Mit zwölf ging er zunächst bei einem Gerichtsschreiber mit Namen Masseron (ein für Rousseau schmählich endender Aufenthalt), ein Jahr später bei einem Graveur namens Abel Ducommun in die Lehre. An der letzteren Tätigkeit fand er zwar mehr Gefallen als an der vorigen; Leselust und Träumereien erschwerten jedoch Freundschaften unter den Altersgenossen und führten immer wieder zu Bestrafungen.[4] 1726 heiratete Rousseaus Vater ein zweites Mal (die Ehe wurde an dessen Zufluchtsort Nyon geschlossen); seitdem zeigte er nur noch ein geringes Interesse an dem Jungen.

Jugend

Als Rousseau im März 1728 bei der späten Rückkehr von einem Sonntagsausflug das Stadttor verschlossen fand, was davor bereits zweimal geschehen war und ihm jeweils eine Prügelstrafe eingebracht hatte,[4] folgte er einer schon länger gehegten Idee und ging auf Wanderschaft. In Savoyen lernte er nach einigen Tagen einen katholischen Geistlichen kennen, der den Kontakt zu Madame de Warens in Annecy vermittelte. Sie war soeben aus der Schweiz nach Savoyen ausgewandert und Katholikin geworden; in Annecy lebte sie unter Schutz (und Beobachtung) der katholischen Geistlichkeit. Madame de Warens nahm Rousseau auf, schickte ihn aber auf kirchlichen Ratschlag hin schon drei Tage später nach Turin. Dort ließ er sich nach vierteljähriger Unterweisung im Hospice des catéchumènes katholisch taufen. Die Reise dorthin unternahm er in Begleitung eines Bauernpaars zu Fuß.[5] Seinen Lebensunterhalt verdiente er in Turin als Diener, später als Sekretär in adligen Häusern.

Ein Jahr später kehrte er zu Madame de Warens zurück. Ihrem Vorschlag folgend, trat er für kurze Zeit in das Priesterseminar von Annecy ein. Anschließend vermittelte sie ihn an den Leiter der Dom-Musikschule, da er ihr während der Hausmusikstunden als talentierter Sänger aufgefallen war. Der Schulleiter nahm ihn bei sich auf und unterrichtete ihn in Chorgesang und Flöte. Es folgten einige fruchtbare Monate, in denen Rousseau die Grundlagen seiner Musikkenntnisse erwarb.

Als sein Lehrer eine neue Stelle in Lyon antrat, begleitete Rousseau ihn zunächst, kehrte dann aber nach Annecy zurück. Da jedoch Madame de Warens nach Paris gereist war, ging Rousseau erneut auf Wanderschaft. Sie führte ihn unter anderem nach Lausanne, Nyon (wo er auch den Vater besuchte),[5] ins preußische Neuchâtel und im Sommer 1731 zum ersten Mal nach Paris. In Neuchâtel versuchte er sich erfolglos als Musiklehrer. Während seiner Wanderschaft litt Rousseau immer wieder große Armut. Sie zwang ihn zum Betteln, brachte ihn aber auch mit den notleidenden Bauern in Verbindung.[6]

Am 3. April 1731[7] begegnete Rousseau auf einem Spaziergang in Boudry einem italienisch sprechenden Mann „mit einem großen schwarzen Bart und einem veilchenfarbenen Gewand nach griechischer Art“,[8] der angab, als „griechisch-katholischer Prälat und Archimandrit von Jerusalem“[9] in Europa Mittel für die Wiederherstellung des Heiligen Grabs in Jerusalem zu sammeln. Rousseau ließ sich dazu bewegen, den vermeintlichen „Archimandriten“ als Sekretär und Dolmetscher zu begleiten. Sie sammelten zunächst Geld in Freiburg sowie Bern und reisten anschließend nach Solothurn zum französischen Gesandten weiter. Bei diesem handelte es sich um den Marquis Jean-Louis d'Usson de Bonnac (1672–1738), der zuvor Botschafter im Osmanischen Reich gewesen war und den angeblichen Prälaten und Archimandriten als Schwindler enttarnte. Da Rousseau bei Marquis de Bonnac einen guten Eindruck erweckt hatte, konnte er sich einige Tage in der Residenz aufhalten und dann mit Empfehlungsbriefen und hundert Franken Reisegeld nach Paris reisen.[10]

In Paris erhielt Rousseau sich, indem er in den Dienst eines jungen Schweizers eintrat. Nachdem er aber erfahren hatte, dass Madame de Warens sich wieder in Savoyen aufhielt, diesmal in Chambéry, kehrte er zu seiner dreizehn Jahre älteren „Maman“, wie er sie nannte, zurück. Sie nahm ihn nun wie einen Ziehsohn auf und vermittelte ihm eine Schreiberstelle im Katasteramt, die er jedoch 1732, nach acht Monaten, wieder aufgab, um als Musiklehrer zu arbeiten.

Es folgten fünf glückliche Jahre, die für seine fast gänzlich autodidaktisch erworbene Bildung sehr wichtig waren. Er las, musizierte, experimentierte und begann zu schreiben. Die Gastgeberin führte den anfänglich Widerstrebenden auch in die Liebeskunst ein, hatte allerdings mit dem bei ihr als Faktotum beschäftigten Claude Anet neben Rousseau noch einen weiteren Liebhaber.[6] 1735 pachtete Madame de Warens das vor den Toren Chambérys gelegene Anwesen Les Charmettes. Dieser Ort verkörperte für Rousseau in den kommenden drei Jahren das „Ideal eines geordneten und glücklichen Lebens“.[11]

Im Sommer 1736 erlitt er durch einen Explosionsunfall bei chemischen Experimenten eine Augenverletzung, weswegen er sich im Herbst zu einem Arzt nach Montpellier begab. Als er Anfang 1738 zurückkehrte, hatte Madame de Warens mit ihrem neuen Sekretär und Hausverwalter Jean-Samuel-Rodolphe Wintzenried ein Verhältnis begonnen. Zwar bot sie Rousseau ein erneutes Dreiecksverhältnis an, doch dies lehnte er ab.[12] Dennoch blieb er weitere zwei Jahre bei ihr, bis er im Frühjahr 1740 eine Stelle als Hauslehrer bei der Familie Mably in Lyon antrat.

Nachdem er im Frühjahr 1741 noch einmal nach Les Charmettes zurückgekehrt war,[12] reiste er im Sommer 1742 nach Paris, um ein von ihm entwickeltes, auf Zahlen basierendes[13] Notensystem von der Académie des sciences patentieren zu lassen. Er durfte es dort präsentieren, bekam ein Zertifikat und ließ Anfang 1743 seine Präsentation als Dissertation sur la musique moderne (Abhandlung über die moderne Musik) im Druck erscheinen. Auch lernte er den Komponisten Jean-Philippe Rameau kennen, der Rousseaus System zwar für die ihm eigene Exaktheit lobte, gleichzeitig aber geltend machte, es sei der abstrakteren Notenschrift, die den Verlauf der Melodie veranschauliche, unterlegen.[13] Auch sonst setzte sich Rousseaus Notationssystem nicht durch.

Immerhin erhielt er Zugang zum bekannten literarischen Salon von Madame Dupin und lernte führende Köpfe der Stadt kennen. Auch begann er, die Oper Les Muses galantes zu komponieren. Im Sommer 1743 reiste er nach Venedig, wo er für den neuen französischen Gesandten als Gesandtschaftssekretär arbeitete.[14] Rousseau zerstritt sich jedoch mit seinem Herrn und kehrte schon im Herbst 1744 nach Paris zurück.

Paris

In Paris machte Rousseau 1745 die Bekanntschaft verschiedener Mäzene, so die des Alexandre Le Riche de La Pouplinière, mit dessen Hilfe er seine fertiggestellte Oper Les Muses galantes[15] aufführen ließ. Vor allem knüpfte er Kontakte zu anderen jungen Intellektuellen, darunter Denis Diderot, Étienne Bonnot de Condillac und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, den Herausgebern der 1746 von Diderot initiierten Encyclopédie. Es folgten weitere literarische Versuche, so schrieb er z. B. 1747 die Komödie L’Engagement téméraire. Zeitlebens blieb seine Existenz durch große materielle Unsicherheit bestimmt.

Ebenfalls 1745 begann er ein festes Verhältnis mit der Wäscherin Thérèse Levasseur (1721–1801), die im Folgejahr ihr erstes Kind gebar. Rousseau, der selbst früh Halbwaise wurde, drängte Thérèse, das Kind in eine Einrichtung für „Findelkinder“ (Enfants trouvés) zu geben. Auch die vier später geborenen Kinder verschwanden in Waisenhäusern.[16] Obgleich die Lebenserwartung dort gering war, entsprach dies einer damals nicht unüblichen Praxis. Rousseaus väterliches Verhalten wird bis heute als schwerster Einwand gegen seine Persönlichkeit erhoben; auch schon seinerzeit, so etwa von Voltaire. Insbesondere Rousseaus Glaubwürdigkeit als pädagogischer Theoretiker wird von hier aus in Frage gestellt. Rousseau selbst führte eine ganze Reihe von Entschuldigungsgründen an: „Hätte ich sie der Frau von Epinay oder der Frau von Luxembourg überlassen, die sich sei es aus Freundschaft, sei es aus Edelmuth oder aus irgend einem andern Grunde später ihrer haben annehmen wollen, wären sie wohl zu gesitteten und gebildeten Leuten erzogen worden? Ich weiß es nicht; aber davon bin ich überzeugt, daß man sie zum Hasse, vielleicht zum Verrathe ihrer Eltern getrieben hätte; es ist hundertmal besser, daß sie sie gar nicht gekannt haben.“[17] Sein wichtigstes Argument war, dass seine Arbeit schlecht oder gar nicht bezahlt sei, weshalb Thérèse weitgehend allein für den Lebensunterhalt der beiden habe aufkommen müssen und sich nicht zusätzlich mit Kindern habe belasten können.

1749 war ein entscheidendes Jahr für Rousseau. Zu Jahresbeginn beauftragte ihn d’Alembert mit der Abfassung musikologischer Artikel für die Encyclopédie. Im Herbst besuchte er den im Staatsgefängnis im Donjon von Vincennes inhaftierten Diderot und las unterwegs in der Zeitschrift Mercure de France die Preisfrage der Académie von Dijon: Le Rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à épurer les mœurs? („Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu läutern?“). Er verneinte in seinem Discours sur les Sciences et les Arts (Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste) eindeutig die Frage, da – wie er später in seiner staatstheoretischen Schrift Du contrat social weiter ausführte – der Mensch im Naturzustand unabhängig und frei lebe, in der auf Konventionen beruhenden Gesellschaft aber ein gefesselter Sklave sei: „Der Mensch ist frei geboren, und liegt überall in Ketten.“[18] Künste und Wissenschaften verschleiern nur das Schicksal des modernen Menschen,[19] die Zivilisationsgeschichte wird wie in seinen anderen philosophischen Schriften zu einer Geschichte des Niedergangs (la dépravation). Die nach Luxus strebende zeitgenössische europäische Gesellschaft sah er in die sittliche Dekadenz abgleiten.[20] Der Discours lief den Vorstellungen vieler Intellektueller der Zeit zwar völlig entgegen, stieß bei anderen jedoch auf Interesse. Rousseau erhielt 1750 den ersten Preis und wurde, auch dank der Diskussion, die er auslöste, über Nacht europaweit bekannt. Seine Einkünfte stiegen, und er konnte mit Thérèse in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Allerdings gab das Paar 1751 auch ein drittes Neugeborenes im Findelhaus ab.

Ende 1752 wurde mit großem Erfolg seine Oper Le devin du village („Der Dorfwahrsager“) zunächst vor dem Hof und 1753 auch in Paris aufgeführt. Als Rousseau dem König vorgestellt werden sollte, entzog er sich der Ehrung und versäumte damit möglicherweise die Zuweisung einer jährlichen Pension. Nach dem Erfolg des Devin wurde vom Théâtre Français auch seine Komödie Narcisse, ein Jugendwerk, angenommen.

Beginnende Schwierigkeiten

Statt sich zu etablieren, begab sich Rousseau nun sogar in eine Art fundamentaler Opposition, da er mit seiner Oper im Buffonistenstreit als Retter der konservativen französischen Partei dastand, was er keinesfalls wollte. Noch 1754 begann er eine zweite kritische Preisschrift (s. u.). Daneben erregte er den Zorn nicht nur des Opernorchesters (das eine Rousseau-Puppe erhängte) mit seiner Lettre sur la musique française, in der er den französischen Musikstil zugunsten des italienischen herabsetzte. 1754 reiste er (mit einer Zwischenstation bei Madame de Warens) nach Genf, nahm die Staatsbürgerschaft der Genfer Republik wieder an und kehrte zum Protestantismus zurück.

1755 publizierte er, vorsichtshalber in Amsterdam, seinen Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen), der wiederum die Antwort auf eine Preisfrage der Académie de Dijon war: Quelle est l’origine de l’inégalité parmi les hommes, et est-elle autorisée par la loi naturelle? („Was ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und lässt sie sich vom Naturrecht herleiten?“). Rousseau, der ärmliche Kleinbürger, erklärt hierin die soziale Ungleichheit zunächst grundsätzlich aus der geschichtlichen Tatsache der Vergesellschaftung des Menschen – wodurch jeder sich mit jedem vergleicht und Neid sowie Missgunst erwachsen –, sodann aus der Etablierung des Privateigentums: Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.[21]

In dessen Folge erklärt Rousseau die soziale Ungleichheit aus der Herausbildung der Arbeitsteilung und der dadurch ermöglichten Aneignung der Erträge der Arbeit vieler durch einige wenige, die anschließend autoritäre Staatswesen organisieren, um ihren Besitzstand zu schützen. Rousseau wurde mit dieser wahrhaft revolutionären Schrift einer der Begründer des europäischen Sozialismus.

Montmorency

Anfang 1756 lehnte er den Bibliothekarsposten ab, den ihm die Stadt Genf angeboten hatte. Stattdessen siedelte er um nach Montmorency nördlich von Paris als Gast der vielseitig interessierten, selbst schriftstellernden Madame d’Épinay, einer Freundin von Diderot. Mit diesem und dem Kreis der philosophes um ihn verfeindete er sich allerdings 1758, als er auf den kritischen Artikel „Genf“, den d’Alembert für die Encyclopédie verfasst hatte, mit der Lettre à d’Alembert sur les spectacles reagierte, worin er, der einstige Theaterautor, das Theater, dieses Lieblingskind der Aufklärung, als unnütz und potentiell unsittlich anprangerte.

Von April 1756 bis Dezember 1757 fand er in einer Ermitage (Einsiedelei) unweit des Schlosses von Madame Louise d’Épinay, dem Château de la Chevrette in Deuil-la-Barre, Zuflucht.

Danach, bis zum 8. Juni 1762, fand er Unterkunft beim Marschall von Montmorency-Luxembourg, Charles François II. de Montmorency-Luxembourg (1702–1764) sowie bei dessen Frau Madeleine Angélique de Neufville, die gesellschaftliche Salons veranstaltete.

In Montmorency, wo er 1758 ein Häuschen mietete und vorübergehend auch Gast des hochadligen Duc de Luxembourg war, schrieb er innerhalb von knapp sechs Jahren seine bei den Zeitgenossen erfolgreichsten und wirksamsten Werke: erstens den empfindsamen Briefroman Julie oder Die neue Heloise (1756–1758, erschienen 1761), der die letztlich unmögliche Liebe des bürgerlichen Intellektuellen Saint-Preux zu der adligen Julie d’Étanges darstellt[22] und zum Teil von Rousseaus Leidenschaft für die Schwägerin von Madame d’Épinay, der Madame d’Houdetot, inspiriert war; zweitens den Bildungsroman Émile (1759–1761, erschienen 1762), in dem er dafür eintritt, einerseits Kinder ihre Kindheit durchleben zu lassen und von korrumpierenden feudalgesellschaftlichen Einflüssen fernzuhalten (negative und natürliche Erziehung) und andererseits sie dazu anzuleiten, die Gesetzmäßigkeiten der Natur anhand ausgewählter Lehr-Lernszenen selbst zu entdecken und die Strukturen, Werte sowie Normen der Gesellschaft in der arbeitsteilig gegliederten Gesellschaft selbst zusammen mit seinem Mentor zu erleben und im Gespräch – beispielhaft dafür steht das Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars – zu bedenken (kritische Sozialisation); schließlich drittens die staatstheoretische Schrift Du contract social ou Principes du droit politique (Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes, 1760/1761, erschienen 1762), die die Rechte der Individuen gegenüber dem Staat, aber auch dessen Ansprüche gegenüber den Individuen zu definieren und zu begründen versucht und den heute so wichtigen Begriff der Volkssouveränität prägt, auf dem die Legitimität von Volksentscheiden und allgemeinen Wahlen gründet.[23]

Während Julie oder Die neue Heloise sofort nach seinem Erscheinen Anfang 1761 ein großer Erfolg war und eine Welle von Briefromanen in ganz Europa auslöste (darunter Goethes Werther), wurde der Contrat social nach seinem Erscheinen im April 1762 verboten, ebenso Émile, als es Ende Mai erschien. Die Sorbonne verurteilte das Buch Anfang Juni, das Parlement von Paris verbot es wenige Tage danach und erließ einen Haftbefehl gegen den Autor. Stein des Anstoßes war vor allem die im Émile im 4. Buch als Einschub enthaltene Profession de foi du vicaire savoyard („Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“). In diesem Text trägt Rousseau zunächst eine Philosophie von Erkenntnis und Moral vor, in der die Stellungnahme des eigenen Herzens bzw. Gewissens eine alles beherrschende Rolle spielt. Es folgt der Entwurf einer „natürlichen Religion“, verbunden mit einer scharfen Kritik jeglicher Religion, die sich auf Offenbarung gründet (also auch des Christentums). Neben den französischen Autoritäten, darunter der Erzbischof von Paris Christophe de Beaumont, waren insbesondere die calvinistischen Oberen in Genf entrüstet. Sie verboten das Buch noch im Juli und erließen ebenfalls Haftbefehl gegen seinen Autor. In Genf wie in Paris wurden Exemplare des Émile verbrannt, in Genf auch des Gesellschaftsvertrags.[24]

Neuerliches Wanderleben

Rousseau, der sofort geflüchtet war, fand Aufnahme bei seinem Freund, Daniël Roguin, in Yverdon, wurde aber sehr rasch ausgewiesen.[25] Im Juli wandte er sich über den Gouverneur Keith der damaligen preußischen Exklave Neuchâtel/Neuenburg an Friedrich den Großen, der ihm Asyl und etwas später sogar Bürgerrecht gewährte. Rousseau ließ sich nieder im neuenburgischen Städtchen Môtiers, wohin er Thérèse nachholte und wo er begann, sich als Armenier zu kleiden. Noch vor Ende 1762 datiert eine erste Verteidigungsschrift Rousseaus, ein offener Brief an den Pariser Erzbischof, der im August den Émile ebenfalls verurteilt hatte.

Anfang 1763 stellte er in Môtiers sein wohl noch in Montmorency begonnenes Dictionnaire de la musique fertig. 1764 begann er mit botanischen Studien.

1765 lebte Rousseau vom 12. September bis zum 25. Oktober auf der St. Petersinsel im Bielersee, die, wie er bekennt, glücklichsten Monate seines Daseins. Er zog sich in die Natur zurück, suchte auf der Insel Einsamkeit, begann ihre Pflanzen zu erfassen und verfasste eine Flora Petrinsularis; gleichzeitig besuchten ihn dort Berühmtheiten aus ganz Europa. Der Berner Geheime Rat wies ihn aus.

Ende 1765 fühlte er sich auch in Môtiers unwillkommen und verfolgt, nicht zuletzt vielleicht, weil er begonnen hatte, sich als Armenier zu kleiden. Er nahm deshalb eine Einladung des Philosophen David Hume an und ließ sich einen Durchreise-Pass für Frankreich ausstellen. Unterwegs konnte er feststellen, dass er inzwischen durchaus auch Sympathisanten hatte. Bei einem Aufenthalt in Straßburg wurde er mit einer Aufführung des Devin de village geehrt, in Paris war er Gast des Prince de Conti und empfing in dessen Haus Besuche.

Das Jahr 1766 und die erste Jahreshälfte 1767 verbrachte er überwiegend in England, anfangs bei Hume, mit dem er sich aber zerstritt und der ihn attackierte. Immerhin fand er auch in England Sympathisanten vor, die z. B. den König bewogen, ihm eine Pension zu gewähren. 1767 und 1768 lebte er an verschiedenen Orten Frankreichs, unter anderem auf einem Schloss von Conti. Da der Haftbefehl des Pariser Parlaments nicht aufgehoben war, reiste er unter einem Decknamen und gab Thérèse als seine Schwester aus. 1769 und 1770 lebten sie auf einem Bergbauernhof in der südostfranzösischen Dauphiné, nachdem sie im August 1768 dort geheiratet hatten.

Ab 1763 verfasste Rousseau eine ganze Reihe kürzerer und längerer autobiografischer Texte, darunter seine 1765–1770 geschriebenen, später berühmt gewordenen Confessions (Die Bekenntnisse), die erst posthum publiziert wurden. Darin schildert er auch intime Details aus seinem Leben sowie eigene Verfehlungen. Vor allem diese Schrift begründete die Untergattung der „selbstentblößenden“ Autobiografie. Den Titel wählte er in Anlehnung an den der Confessiones des Augustinus von Hippo.

Im Frühjahr 1770 verließ er seinen Bergbauernhof Richtung Paris. Bei einem Aufenthalt in Lyon ließ der Vorsteher der Kaufmannschaft ihm zu Ehren seinen Devin und sein lyrisches Kleindrama Pygmalion aufführen, in dem er es offenbar als erster in der Geschichte dieses Stoffes wagte, den Künstler sein Kunstwerk ohne göttliche Hilfe beleben zu lassen. Ab Juni lebte er wieder, zurückgezogen und von den Behörden geduldet, mit Thérèse in Paris. Er wurde hin und wieder zu Lesungen eingeladen und, da seine Ideen sich nun weiter verbreiteten, sammelten sich Bewunderer um ihn, darunter ab 1771 der später sehr bekannte Autor Bernardin de Saint-Pierre.

Etwa seit 1762 war Rousseau den nervlichen Belastungen aufgrund der zahlreichen Verunglimpfungen und Verfolgungen nicht mehr gewachsen. Seine Ängste und Abwehrhandlungen nahmen teilweise wahnhafte Züge an.[26]

Die letzten Jahre

1772–1775 verfasste Rousseau den autobiografischen Dialog Rousseau juge de Jean-Jacques. 1774 gab er sein Dictionnaire des termes d’usage en botanique in Druck. 1776–1778 schrieb er sein letztes längeres Werk, die in lyrischer Prosa gehaltenen Rêveries du promeneur solitaire (Träumereien des einsamen Spaziergängers), die auf ebenfalls neue Art Gegenwartsmomente zum Ausgangspunkt von autobiografischen Rückblicken machen und mit ihrem Einfangen von Naturstimmungen als eine Vorbereitung der Romantik gelten.

Im Mai 1778 folgte er einer Einladung des Marquis René Louis de Girardin auf dessen Schlösschen Ermenonville. Als er den Tod kommen fühlte, sprach er darüber freimütig und ohne Scheu zu seiner Frau, und als sie in Tränen ausbrach, sagte er: „Warum weinst Du? Es ist ja mein Glück, ich sterbe in Frieden. Niemand wollte ich Leids tun und rechne mit der Gnade Gottes“. Er ließ das Fenster öffnen, sah in den schönen Tag hinein und sagte: „Wie rein und lieblich ist der Himmel, keine Wolke trübt ihn. Ich hoffe, der Allmächtige nimmt mich da hinauf zu sich.“

In Ermenonville starb er wenig später, wahrscheinlich an einem Schlaganfall. Er wurde auf der Île des peupliers („Insel der Pappeln“) im Schlosspark, dem heutigen Parc Jean-Jacques Rousseau, begraben. Seine Witwe Thérèse wohnte noch etwa ein Jahr in dem für ihn bestimmten Haus.

Zwei Monate nach dem Sturz Robespierres, am 11. Oktober 1794, ließ der Nationalkonvent Rousseaus sterbliche Überreste triumphal ins Pariser Panthéon überführen. Der von den Thermidorianern initiierte Festakt wurde als antijakobinisch und antiterroristisch wahrgenommen.[27]

Zwischen 1780 und 1788 gab Pierre-Alexandre Du Peyrou (1729–1794) das Gesamtwerk von Jean-Jacques Rousseau heraus, zusammen mit dem Marquis René Louis de Girardin, auf dessen Gut in Ermenonville Rousseau in den letzten Jahren gelebt hatte, und dem Prediger Paul Moultou (1731–1797).


Text: Wikipedia

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