Martin Luther

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Martin Luther (* 10. November 1483 in Eisleben, Grafschaft Mansfeld; † 18. Februar 1546 ebenda), ein Augustinermönch und Theologieprofessor, war der Initiator der Reformation. Er fand in Gottes Gnadenzusage und der Rechtfertigung durch Jesus Christus allein das Wesen des christlichen Glaubens. Auf dieser Basis wollte er damalige Fehlentwicklungen der Römisch-katholischen Kirche beseitigen und sie in ihrer ursprünglichen evangelischen Gestalt wiederherstellen („re-formieren“). Entgegen Luthers Absicht kam es zu einer Kirchenspaltung, aus der evangelisch-lutherische Kirchen und im Lauf der Reformation weitere Konfessionen des Protestantismus entstanden.

Die Lutherbibel, Luthers Theologie und Kirchenpolitik trugen zu tiefgreifenden Veränderungen der europäischen Gesellschaft und Kultur in der Frühen Neuzeit bei.

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Sonstige

Leben

Herkunft, Name, Geburtsjahr

Luther war der erste Sohn des Hüttenmeisters Hans Luder (1459–1530) und seiner Frau Margarethe Lindemann (1459–1531). Die Eltern hatten um 1479 geheiratet und waren nach Eisleben gezogen, wo der Vater eine Hütte pachtete. Seine Familie führte ihren Nachnamen in verschiedenen Varianten.[1] Luther wählte seine Nachnamensform um 1512 oder 1517. Er leitete sie vom Herzog Leuthari II. oder vom griechischen Adjektiv eleutheros („frei“) ab und benutzte vorübergehend die Form Eleutherios („der Freie“).[2]

Nach Erinnerungen von Luthers Mutter, die sein Mitarbeiter Philipp Melanchthon nach seinem Tod aufzeichnete, wurde er am 10. November nachts geboren und am Folgetag auf den Namen des Tagesheiligen Martin von Tours getauft. Das Geburtsjahr 1483 sei nach Luthers Bruder Jakob Familienmeinung gewesen; Luther nannte jedoch 1482 oder 1484. Für 1482 spricht, dass er 1505 bei seiner Magisterprüfung angab, er sei 22 Jahre alt.[3] Im zweiten Fall wäre Mansfeld sein Geburtsort gewesen, wohin die Familie im Sommer 1484 gezogen war.[4]

Kindheit und Jugend

In Mansfeld wohnte die Familie zunächst zur Untermiete, bezog bald aber ein repräsentatives Wohnhaus gegenüber dem Schloss. Hier wuchs Martin mit seinem jüngeren Bruder Jacob (1490–1571) und drei Schwestern auf. In der Mansfelder Lateinschule (1490–1497) lernte er vor allem Grammatik und etwas Logik, Rhetorik und Musik. Ab 1491 wurde der relativ wohlhabende Vater Mitglied des Stadtrats.[5] Ab Frühjahr 1497 besuchte Martin rund ein Jahr lang die Magdeburger Domschule. Die Brüder vom gemeinsamen Leben boten ihm Quartier. Er verkehrte im Haus von Paul Moßhauer, der auch aus einer Mansfelder Bergbauunternehmerfamilie stammte und Offizial des Erzbischofs Ernst II. von Sachsen war.[6]

Zur Vorbereitung auf das Studium zog Luther zu Verwandten seiner Mutter in die Kleinstadt Eisenach, die damals drei Pfarrkirchen, mehrere Klöster und somit anteilig viele Geistliche unter den rund 4000 Bürgern hatte.[7] Auf der Pfarrschule St. Georgen (1497–1498) lernte Luther, Latein fließend zu sprechen und zu schreiben. Er behielt später Kontakt zu dem Lehrer Wigand Güldenapf, dem er nach Eigenangaben viel verdankte. Anfangs musste Luther als Kurrendensänger seinen Unterhalt bestreiten. Dann fand er Aufnahme im Wohnhaus der Bürgerfamilien Cotta und Schalbe in der Georgenvorstadt (nicht identisch mit dem heutigen „Lutherhaus Eisenach“). Luther lernte so das Collegium Schalbense kennen, eine vom Franziskanerorden geprägte Gebets- und Lesegemeinschaft von Mönchen und Bürgern. Zudem nahm er an Treffen im Haus des Priesters und Stiftsvikars Johannes Braun teil, bei denen musiziert, gebetet und über geistliche und humanistische Texte gesprochen wurde. In diesem Kreis wurde auch die Heilige Anna verehrt.[8]

Im Sommersemester 1501 wurde „Martinus Ludher ex Mansfeldt“ in der Artistenfakultät der Universität Erfurt eingeschrieben. Da er als vermögend eingeschätzt wurde, musste er die volle Einschreibgebühr entrichten.[9] Ob Luther als Student der Artes in der Georgenburse lebte oder im Collegium Porta Coeli, ist ungewiss.[10] Das studentische Leben in einer Burse war stark reglementiert und hatte klosterähnliche Züge. Am 29. September 1502 legte Luther zum frühestmöglichen Zeitpunkt das Bakkalaureats-Examen ab und bestand es als dreißigster von 57 Graduierten.[11] Eine Verletzung am Oberschenkel mit dem Degen, den er als Student trug, zwang ihn 1503 oder 1504, das Bett zu hüten. In dieser Zeit lernte er die Laute zu spielen.[12] Der Tod einiger Kollegen und Professoren infolge der Pest, die 1504/05 in Erfurt und Umgebung grassierte, stürzte Luther in eine Krise. Am 6. Januar 1505 schloss er seine akademische Grundbildung als zweiter von 17 Kandidaten mit dem Magister artium ab.[11]

Luther bezeichnete Jodocus Trutfetter von Eisenach und Bartholomäus Arnoldi von Usingen als seine akademischen Lehrer und hatte näher Kontakt zu ihnen.[13] Als philosophische Grundausbildung hatte er bis dahin Aristoteles in mittelalterlich-scholastischer Interpretation studiert. Aristoteles hatte seinen habitus-Begriff am Beispiel des Zitherspielers erläutert: Dieser werde durch Spielpraxis zum „leicht, sicher, lustvoll und vollkommen“ handelnden Virtuosen. Die Scholastik bezog dies auf das Christsein: Der tugendhafte Christ tue leicht, spontan und freudig, was Gott fordere.[14]

Auf Wunsch seines Vaters studierte Luther im Sommersemester 1505 Jura in Erfurt, um später in die gräfliche Verwaltung eintreten und das Familienunternehmen leiten zu können. Doch am 2. Juli 1505 überraschte ihn auf dem Rückweg von einem Elternbesuch in Mansfeld bei Stotternheim ein schweres Gewitter. In Todesangst gelobte er der Heiligen Anna, er wolle Mönch werden, wenn sie ihn rette.[15]

Weshalb Luther dieses Gelübde ablegte und dann ins Kloster eintrat, ist ungeklärt. Nach Martin Brecht (1981) wollte er damit eine auch durch das Jurastudium ausgelöste Lebenskrise bewältigen.[16] Nach Thomas Kaufmann bedrückten ihn das Jurastudium und eventuell elterliche Pläne einer Geldheirat für ihn. Die Pest in Erfurt und das Gewittererlebnis hätten Luther die Schutzlosigkeit seiner Existenz und Gottes Zugriff gezeigt. Die Selbsthingabe als Mönch sei ihm als angemessene Antwort erschienen. So bat Luther am 17. Juli 1505 beim Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt um Aufnahme.[17]

Priesterausbildung und Theologiestudium

Zunächst war Luther im Augustinerkloster Erfurt als Gast untergebracht und legte vor Prior Winand von Diedenhofen seine erste Generalbeichte ab. Wohl schon im Herbst 1505 wurde er als Novize aufgenommen und für ein Probejahr dem Novizenmeister Johannes von Paltz übergeben. Dieser führte ihn in die Lebensweise der Gemeinschaft ein.[18] Bei einem Besuch des Erfurter Klosters am 3. April 1506 traf der Generalvikar der Augustinereremiten Johann von Staupitz Luther erstmals und wurde sein Beichtvater und Seelsorger. Die Ordensoberen hatten Vertrauen in Luthers Entwicklung und erwarteten einiges von ihm, während er selbst ein Ungenügen empfand.[19]

Mit seiner Profess im September 1506 wurde Luther endgültig als Mönch aufgenommen. Seine Vorgesetzten legten fest, dass er Priester werden und anschließend Theologie studieren sollte. Für seine zukünftige Hauptaufgabe, die Feier der Messe, studierte Luther Gabriel Biels Auslegung des Canon Missae.[20] Am 4. April 1507 weihte ihn Weihbischof Johann Bonemilch von Laasphe im Erfurter Dom zum Priester.[21] Zur Primiz am 2. Mai 1507 in der Klosterkirche lud er seine Mansfelder Verwandten und Eisenacher Freunde ein.

Dann begann Luther das Theologiestudium. Sein wichtigstes Lehrbuch war der Sentenzenkommentar (Collectorium) von Gabriel Biel, der Wilhelm von Ockhams Lehre mit anderen scholastischen Lehrmeinungen ausglich[22] und ein pelagianisches Verständnis von Willensfreiheit vertrat. Dieses widersprach laut Johannes Wallmann Thomas von Aquin und dem späteren Konzil von Trient. Luthers spätere reformatorische Theologie war ein Gegenentwurf zu Biels Ockhamismus.[23]

Auf Empfehlung von Johann von Staupitz versetzte die deutsche Kongregation in München Luther am 18. Oktober 1508 nach Wittenberg. Dort sollte er kurzfristig einen Mitbruder vertreten[24] und an der Artistenfakultät Moralphilosophie lehren. Nach der Organisationsweise der damaligen Universität war Luther nun Dozent und Student zugleich. Im März 1509 erwarb er den Grad des Baccalareus biblicus. Nach einem weiteren Semester disputierte er für den nächsten Grad des Baccalaureus sententiarius. Bevor er seine Antrittsvorlesung halten konnte, rief sein Kloster ihn jedoch ohne Absprache mit Staupitz überraschend zurück. Eventuell protestierten die Erfurter Augustiner damit gegen Staupitz’ Wahl zum sächsisch-thüringischen Provinzial.[25] Luther traf noch 1509 wieder in Erfurt ein.[26] Wie seine Notiz auf einer gedruckten Augustinus-Werkausgabe der Klosterbibliothek belegt, las er seit 1509 Schriften des Augustinus von Hippo. Darunter waren De trinitate und De civitate Dei, noch nicht aber jene Werke, in denen sich Augustinus mit den Pelagianern auseinandersetzte.[27] Im Herbst 1509 hielt Luther im Auditorium Coelicum am Dom zu Erfurt seine Sentenzenvorlesung und wurde dann zum Baccalaureus sententiarius ernannt.[28] Er lehrte als Sententiar in Erfurt vom Wintersemester 1510 bis zum Sommersemester 1511.[25] Danach zog er ganz nach Wittenberg um.[29]

Dem Humanismus verdankte Luther das Interesse an den biblischen Sprachen, seine Theologie berührte ihn jedoch kaum.[30] Schon 1506 erwarb er das Lehrbuch Johannes Reuchlins De rudimentis hebraicis und brachte sich damit die hebräische Sprache selbst bei. 1512 erwarb er zudem Reuchlins Ausgabe der sieben Bußpsalmen (Septem psalmi poenitentiales) mit hebräischem Text, lateinischer Übersetzung und grammatischen Erläuterungen.[31] Luther hatte zu den Erfurter Humanisten Crotus Rubeanus, Mutianus Rufus (ab 1515)[32] und Johann Lange Kontakt, gehörte aber nicht zu ihrem Kreis. Er interessierte sich für Autoren der Antike und besaß früh das griechische NT von Erasmus.[33]

Romreise

Im Auftrag seines Ordens und von einem Mitbruder begleitet, reiste Luther Ende 1510 oder später nach Rom. Datum und genauer Zweck der Reise sind unklar. Laut Heinrich Böhmer (Martin Luthers Romfahrt, 1914) und ihm folgend Heinz Schilling (Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs, 2013) sollten die beiden Erfurter Mönche in Rom gegen die von der Leitung des deutschen Augustinerordens befohlene Vereinigung der strengen Observanten mit den liberaleren Augustinerklöstern der sächsischen Ordensprovinz protestieren. Hans Schneider[34] und ihm folgend Thomas Kaufmann, Bernd Moeller, Volker Leppin und Ulrich Köpf datieren die Romreise dagegen auf 1511/12. Dann wäre Luther von Wittenberg, nicht Erfurt aus gereist und wohl nicht gegen die Vereinigungspläne aufgetreten, sondern weiterhin als Unterstützer seines Beichtvaters von Staupitz. Luther hatte seine Herkunftsregion zuvor noch nie verlassen und reiste nie wieder so weit und lange fort. Er nutzte seinen etwa vierwöchigen Romaufenthalt auch, um seine dritte Generalbeichte abzulegen, und besuchte zahlreiche Gnadenorte.[35] Laut Johannes Wallmann zweifelte Luther nicht an der römischen Buß- und Ablasspraxis, ließ „die reichen Gelegenheiten des Ablaßerwerbs nicht vorübergehen“, war aber entsetzt über den dortigen Unernst und Sittenverfall, ohne sich durch die „scharf beobachteten Verfallserscheinungen“ in seinem Glauben an die Kirche beirren zu lassen.[36] Nach Volker Leppin zeigen frühe Zeugnisse Luthers noch keine solchen Beobachtungen; erst Luthers späte Tischreden betonen Verfallserscheinungen in Rom, die er auch aus anderen Quellen gekannt haben kann. 1519 sei Rom für ihn noch die Kirche des Simon Petrus, des Paulus von Tarsus und der vielen Märtyrer gewesen, auf die Gott sein besonderes Augenmerk gerichtet habe. Da er später immer wieder nur seine privaten Reiseeindrücke erwähnte, war es eventuell eine Pilgerreise, keine Dienstreise.[37]

Aufgaben in Wittenberg

Auf von Staupitz’ Initiative zog Luther im September 1511 von Erfurt nach Wittenberg, das damals höchstens 2500 Einwohner hatte, und bewarb sich für ein theologisches Doktorat.[38] Die Leucorea war noch im Aufbau, auch das Wittenberger Klostergebäude war damals unfertig. Jedoch war Wittenberg Hauptstadt von Kursachsen. Luther begab sich also in ein für seine weitere Entwicklung wichtiges politisches Kräftefeld.[38] Beim Ordenskapitel der Augustinereremiten in Köln am 5. Mai 1512 unterstützte Luther wahrscheinlich von Staupitz in den ordensinternen Konflikten. Man bestimmte ihn zum Subprior und Studienleiter sowie Klosterprediger der Wittenberger Ordensniederlassung. Er sollte die Bibelprofessur, die zuvor Staupitz innehatte, auf Lebenszeit übernehmen; der Kurfürst war deshalb bereit, die Promotionskosten zu übernehmen.[39]

Da Kursachsens Gebiet zu mehreren Bistümern gehörte, befand sich Luthers Landesherr Friedrich der Weise kirchenpolitisch in der stärkeren Position. Das Allerheiligenstift in Wittenberg samt der inkorporierten Stadtkirche unterstand direkt dem Papst und war damit der Kontrolle des Brandenburger Bischofs entzogen.[40] Weil der Kantor des Allerheiligenstifts Ulrich von Dinstedt seine Aufgabe als Prediger an der Stadtkirche nicht wahrnahm, erhielt Luther den Predigtauftrag. Er bezog daraus seine für lange Zeit einzigen persönlichen Einkünfte (jährlich 8 Gulden 12 Groschen). Seine ersten sicher datierten Predigten stammen aus dem Jahr 1514.[41]

Auf dem Kongregationskapitel in Gotha am 1. Mai 1515 wurde er zum Provinzialvikar ernannt und übernahm damit zusätzlich zu seiner Wittenberger Lehrtätigkeit Leitungsaufgaben in seinem Orden, die mit einer erheblichen Visitations- und Reisetätigkeit verbunden waren.[42] Als Vikar unterstanden ihm zehn Konvente, darunter sein ehemaliger Heimatkonvent in Erfurt. Dort setzte er 1516 Johann Lange zum Prior ein. In Wittenberg stand er als Subprior an zweiter Stelle in der Klosterhierarchie, zugleich war er als Vikar Vorgesetzter des Priors.[43]

Professur für Bibelauslegung

Im Oktober 1512 war Luther durch Andreas Bodenstein an der Leucorea zum doctor theologiae promoviert worden. Sein Doktoreid verpflichtete ihn auf die Heilige Schrift, also die Bibel, und auf die theologische Erschließung ihres Gehalts. Darauf berief er sich im späteren Konflikt mit der Papstkirche.[44]

In Wittenberg bot Luther pro Semester eine zweistündige Vorlesung an.[45] Davon sind einige studentische Nachschriften und Arbeitstexte erhalten, darunter der Wolfenbütteler Psalter, Luthers Handexemplar der ersten Psalmenvorlesung (Dictata super Psalterium, 1513–1515). Luther legte hier noch den lateinischen Text der Vulgata mit der überkommenen Methode des vierfachen Schriftsinns aus, betonte aber schon für ihn Typisches: Alle Psalmen handelten von Jesus Christus. Da sie vor dem irdischen Leben des Jesus von Nazaret entstanden seien, täten sie dies im Literalsinn, aber auf prophetische Weise (sensus litteralis propheticus). Diesen hermeneutischen Zugang verdankte Luther seinem Mentor von Staupitz.[46]

Seine Römerbriefvorlesung (1515/16) bereitete Luther schon nach dem griechischen Neuen Testament (NT) vor, legte aber weiterhin für seine Studenten den lateinischen Text zugrunde. Auch hier nutzte er oft den vierfachen Schriftsinn, rückte aber allmählich davon ab und zitierte sehr oft Augustinus. Dessen achten Band einer 1506 in Basel gedruckten Werkausgabe hatte er wohl zur Vorbereitung seines Römerbriefkollegs zur Hand genommen. Darin enthaltene antipelagianische Texte wie De spiritu et littera gaben ihm zudem eine „systematisch-theologische Hilfe zum Verständnis des Römerbriefs und der paulinischen Theologie überhaupt.“[47]

Im Wintersemester 1516/1517 las Luther über den Brief des Paulus an die Galater, dann zeitlich parallel zum Ablassstreit zwei Semester über den Brief an die Hebräer.[45] Nur von wichtigen lebensgeschichtlichen Ereignissen unterbrochen, las er regelmäßig bis November 1545 über ein biblisches Buch (lectura in biblia).[48] Er wählte auffällig oft Themen aus dem Alten Testament (AT) – wohl deshalb, weil er seine Hebräischkenntnis höher als seine Griechischkenntnis einstufte. Nur vier von 32 Jahren seiner Bibelprofessur widmete er NT-Schriften.[49]

Im August 1518 berief die Universität Wittenberg Philipp Melanchthon an den neu eingerichteten Lehrstuhl für Altgriechische Sprache. Er wurde Luthers engster Mitarbeiter.

Reformatorische Wende

Wann Luther das reine Geschenk der Gerechtigkeit Gottes allein aus Gnade (sola gratia) zuerst formulierte, ist ein Hauptstreitpunkt der Lutherforschung. In einer späteren Eigenaussage beschrieb er diesen Wendepunkt als unerwartete Erleuchtung in seinem Arbeitszimmer im Südturm des Wittenberger Augustinerklosters. Manche datieren dieses Turmerlebnis auf 1511 bis 1513, andere um 1515 oder um 1518, wieder andere nehmen eine allmähliche Entwicklung der reformatorischen Wende an. Deren Datierung und nähere inhaltliche Bestimmung hängen wechselseitig zusammen. Luther beschrieb sein Erlebnis 1545 rückblickend als große Befreiung während der Vorbereitung auf seine zweite Psalmenvorlesung (also zwischen Frühjahr und Herbst 1518).[50]

Wie ein Brief Luthers an Staupitz zeigt, waren Probleme mit dem Bußsakrament der Grund für seine damalige große innere Spannung: Er fühlte sich trotz seines untadeligen Lebens als Mönch vor Gott als Sünder, unfähig, den strafenden Gott zu lieben.[50] In der einsamen Meditation über Röm 1,17 LUT habe er plötzlich entdeckt, was er seit einem Jahrzehnt vergeblich gesucht hatte:

„Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche aus dem Glauben kommt und zum Glauben führt; wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus dem Glauben leben.“

Dieser Bibelvers habe ihn zu seinem neuen Schriftverständnis geführt: Gottes ewige Gerechtigkeit sei ein reines Gnadengeschenk, das dem Menschen nur durch den Glauben an Jesus Christus gegeben werde. Keinerlei Eigenleistung könne dieses Geschenk erzwingen. Auch der Glaube, das Annehmen der zugeeigneten Gnade, sei kein menschenmögliches Werk. Damit zerbrach für ihn nach gängiger protestantischer Deutung die gesamte mittelalterliche Theologie. Volker Leppin betont dagegen, Luthers Entwicklung sei gerade nicht bruchhaft erfolgt, sondern habe an die spätmittelalterliche Frömmigkeit der Predigten Johannes Taulers angeknüpft.[51] Die christliche Mystik sei eine Quelle für Luthers Gnadentheologie.[52]

Die von Johannes Mauburnus zusammengestellte Meditationsanleitung Rosetum (1494) aus dem Umfeld der devotio moderna benutzte der junge Luther häufig.[53] Auch mit Schriften des Bernhard von Clairvaux[54], Pseudo-Dionysius Areopagita und Jean Gerson war er vertraut.[55] Bei Bernhard, den er besonders schätzte, steht die humanitas, das irdische Leben Jesu, im Zentrum. Die erinnernde Betrachtung seiner Passion solle den Menschen zum Mitleiden mit Christus bewegen. Staupitz vermittelte Luther als Seelsorger und Beichtvater diese spätmittelalterliche mystische Tradition.

Im Jahr 1516 veröffentlichte Luther die Theologia deutsch eines unbekannten Mystikers, den er mit Johannes Tauler identifizierte. Das Werk bestärkte ihn in seiner wachsenden Ablehnung äußerlicher kirchlicher Riten. Karlstadt und Thomas Müntzer wurden von der Lektüre der Theologia deutsch beeinflusst, über Johann Arndt wurde sie im Pietismus rezipiert, so wurden dem Protestantismus mit Luthers Empfehlung mittelalterlich-mystische Traditionen vermittelt.[56]

Als Luther seine Kreuzestheologie entwickelte, setzte er sich auch mit mystischer Literatur intensiv auseinander. Gott könne wahrhaft nur auf dem Weg des Kreuzes erkannt werden, den er selbst in seinem menschgewordenen Sohn gegangen sei: Dieser Gedanke Luthers könnte von Taulers Kreuzesmystik geprägt worden sein. Tauler identifizierte die Reinigung von der Sünde, die in der mystischen Erfahrung der Erleuchtung vorausgeht, mit der inneren Trübsal, die in Demut und Gelassenheit ertragen werden müsse.[57] Dennoch widersprach Luther auch einigen Grundannahmen der Mystik, lehnte eine menschliche Mitwirkung an der Erlösung sola gratia ab und verneinte zuletzt auch die Möglichkeit, der Mensch könne sich mit Gott oder des Menschen Wille mit Gottes Willen in diesem Leben vereinigen (unio mystica). Insgesamt bestritt er die mittelalterliche Annahme, dass Rechtfertigung und Heiligung im Heilsprozess miteinander verbunden seien.[58]

Ablass, 95 Thesen (1517) und Heidelberger Disputation (1518)

Die auf den 31. März 1515 datierte Ablassbulle von Papst Leo X. sollte dem Neubau des Petersdoms in Rom dienen und auch dem Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg Einnahmen zum Bezahlen seiner Schulden beim Bankhaus der Fugger verschaffen. Der darin enthaltene Plenarablass erließ den Käufern des entsprechenden Ablassbriefs bei einer sofort und in der Todesstunde abgelegten Beichte die zeitliche Sündenstrafe im Fegefeuer für fast alle Sünden. Fast alle Gelübde (außer Klostergelübden) konnten damit umgewandelt und also abgegolten werden. Dieser Ablass sollte acht Jahre lang in den Kirchenprovinzen Mainz, Magdeburg und Brandenburg vertrieben werden.[59] Kurfürst Friedrich III. war entschieden gegen die Werbung für den Plenarablass in der Nähe seiner Landesgrenzen. Er sah im Ablasshandel eine schädliche Konkurrenz für seine Pilgerstätte, die Reliquiensammlung in Wittenberg.[60]

Ab 22. Januar 1517 ließ der Dominikaner Johann Tetzel als Generalsubkommissar für die Ablasskampagne[61] eine vergröbernde Version der Ablassanweisung drucken, um deren finanziellen Ertrag zu erhöhen. Er selbst verdiente daran 80 Gulden im Monat und weitere Vergünstigungen. In Kursachsen durfte er nicht aktiv werden, jedoch erwarben viele Wittenberger ihren Ablassbrief im 35 km entfernten Jüterbog oder in Zerbst. Bürger und Kaufleute zahlten pro Person drei, Handwerker einen Gulden, Mittellose sollten fasten und beten. Im Spätsommer 1517 bekam Luther Tetzels Ablassanweisung zu lesen.[62]

Die Beschäftigung mit dem Ablassthema brachte Luther äußerlich in zunehmenden Konflikt mit kirchlichen Autoritäten und ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Innerlich gelangte er dadurch auch zu persönlichen Glaubenseinsichten zum Bußsakrament, das ihn schon länger beunruhigte.[63] Schon um 1514 in der ersten Psalmenvorlesung hatte er geäußert, dass die Kirche „den Weg zum Himmel durch Ablässe leicht und mit minimalistischen Anforderungen – ein Seufzer genügt – die Gnade billig“ mache.[64] Ähnliche Kritik findet sich in der Römerbriefvorlesung und in Predigten.

Im Sommer 1517 wandte sich Luther überraschend der Auseinandersetzung mit der Scholastik zu. Mutmaßliche Studien zum Ablassthema gingen in seinen Traktat über die Ablässe ein, in dem er diese noch teilweise bejahte.[65] Am 4. September 1517 stellte er zunächst 97 Thesen vor, um eine Disputation über die scholastische Theologie unter seinen Mitdozenten anzuregen. Ockham, dessen Interpretation Luther vermittelt worden war, hielt es für möglich, durch (gute) Werke das Heil zu gewinnen. Er wandte sich mit seiner Publikation Disputatio contra scholasticam theologiam erstmals ausführlich gegen die herrschende scholastische Theologie, die auf der Philosophie des Aristoteles aufbaute.[66]

Am 31. Oktober 1517 schrieb Luther im devoten Ton eines Bettelmönchs direkt an den Mainzer Erzbischof. Er äußerte als Seelsorger seine Sorge über Missverständnisse, die in der Bevölkerung über den Ablass entstünden. Er nehme an, dass Tetzels Ablassinstruktion ohne Kenntnis und Zustimmung Albrechts verfasst worden sei. Dass hinter der Kampagne der Papst stand, erwähnte er nicht. Er unterschrieb als Doktor der Theologie und legte dem Brief seine 95 Thesen bei. Mit weiteren Briefen scheint sich Luther an die Bischöfe von Brandenburg, Merseburg, eventuell auch Zeitz, Lebus und Meißen gewandt zu haben.[67] Um eine akademische Debatte anzuregen, sandte Luther die Thesen auch verschiedenen Gelehrten zu und erbat deren Meinung dazu, wie der erhaltene Brief an Johann Lange in Erfurt (11. November 1517) zeigt.[68] Luther protestierte darin eher gegen die im Ablasswesen zum Ausdruck kommende verkehrte Bußgesinnung als gegen die vielfach von Fürsten und Bürgern abgelehnten Finanzpraktiken der römischen Kirche.[69] Dabei griff er Papst Leo X. noch nicht direkt an, sondern wähnte ihn zumindest rhetorisch noch auf seiner Seite. Allerdings sah er dessen Aufgabe nur in der Fürbitte für die Gläubigen und sprach ihm damit die Schlüsselgewalt für die Aufhebung jenseitiger Sündenstrafen ab, die ihm die schultheologische Ablasslehre zusprach.

Luthers Thesen kursierten in Handschriften und wurden im Dezember 1517 in Nürnberg, Leipzig und Basel gedruckt. Der Wittenberger Stiftsherr Ulrich von Dinstedt ließ den Text dem Nürnberger Christoph Scheurl zukommen, der ihn in seinem Bekanntenkreis verbreitete. Der Ratsherr Caspar Nützel übersetzte den Text ins Deutsche. In dieser Version las ihn Albrecht Dürer und sandte Luther zum Dank ein Geschenk zu. Erasmus von Rotterdam schickte die Thesen am 5. März 1518 an Thomas Morus nach England.[70]

Melanchthon zufolge soll Luther die Thesen am 31. Oktober am Hauptportal der Schlosskirche in Wittenberg angeschlagen haben. Das wurde lange Zeit als ahistorische Legende betrachtet, gilt jedoch nach der Entdeckung einer Notiz Georg Rörers (2006) wieder als wahrscheinlicher. Andere Forscher meinen, Luther habe seine Propositiones als Vorsitzender einer Disputation (praeses) an seine Universitätskollegen verschickt.[71] Weil die Ablassthesen schon kursierten, war der mögliche Thesenanschlag jedenfalls nicht der Beginn der Ablassdiskussion.

Den großen öffentlichen Widerhall der Thesen nahm Luther, der mit der Wirkung von Druckwerken noch unvertraut war, im Februar 1518 als ein Wunder wahr. Ein von Erzbischof Albrecht beantragtes Gutachten der Universität Mainz vom 17. Dezember 1517 empfahl, die Thesen von der Kurie prüfen zu lassen, da sie die Macht des Papstes zur Ablasserteilung anscheinend begrenzten und dadurch von der Kirchenlehre abwichen. Unabhängig davon hatte Albrecht Rom schon über die Sache informiert.[72] Die 95 Thesen erreichten auch Tetzel. Er trat Luther nicht juristisch, sondern auf akademischer Ebene entgegen, indem er an der brandenburgischen Universität Frankfurt an der Oder am 20. Januar 1518 über den Ablass disputierte. Seine Gegenthesen hatte Konrad Wimpina aufgestellt; sie bekämpften Luthers Thesen als Irrtümer, interpretierten die Buße strikt als Sakrament und bekräftigten die gängige Ablasspraxis und die dahinter stehende Ekklesiologie.[73]

Weil nur Fachpublikum die Ablassdebatte verstand, verfasste Luther Anfang März 1518 für die breite Bevölkerung auf deutsch den Sermon von dem Ablass und Gnade. Ablass, so hieß es nun, sei etwas für faule Christen. Man solle lieber den Armen helfen und freiwillig zum Bau der Peterskirche Geld spenden. Ob der Ablass den Toten nütze, sei ungewiss; Luther empfahl stattdessen die Fürbitte für sie. Der Brandenburger Bischof Hieronymus Schulze hatte ihm geraten, eine Weile zu schweigen, damit sich die Sache beruhige. Luther stimmte zu, doch sein Sermon war schon im Druck und wurde sein erster großer literarischer Erfolg.[74] Anfang April ließ er sich wieder von dem Schweigeversprechen entbinden.[75] Inzwischen hatte sich mit Johannes Eck in Ingolstadt ein literarisch und theologisch gewandter Gegner Luthers zu Wort gemeldet. Beide lieferten sich einen polemischen Schlagabtausch, Christoph Scheurl versuchte zu vermitteln.[76]

Am 25. April 1518 erschien Luther als Distriktsvikar in Heidelberg beim Generalkapitel der sächsischen Reformkongregation der Augustinereremiten. Dabei wurde Staupitz als Vikar wiedergewählt, Lang wurde Luthers Nachfolger als Distriktsvikar. Am 26. April fand im Heidelberger Augustinerkloster eine öffentliche Disputation statt, bei der es nicht um den Ablass ging. Luther leitete sie und gewann unter den anwesenden jüngeren Theologen einige Anhänger, die später Reformatoren wurden: Martin Bucer, Erhard Schnepf, Martin Frecht, Theobald Billicanus, Johannes Brenz.[77]

Danach ließ Luther die kommentierenden Resolutiones drucken und sandte je ein Exemplar an Papst Leo X. und an den Bischof von Brandenburg. Darin zeigte Luther, dass die 95 Thesen nicht einfach seine Meinung wiedergaben, sondern die Diskussion anregen sollten, und entwickelte seine Überlegungen zum Fegefeuer weiter: „Mit dem strafenden Umgang Gottes mit den Toten konnte Luther nichts anfangen. Entweder sind ihnen die Sünden vergeben, dann sind die Toten in der Gemeinschaft Gottes, oder sie sind ihnen nicht vergeben, dann sind sie in der Hölle.“[78]

Römischer Prozess, Augsburger Reichstag und Leipziger Disputation (1518/1519)

Der Mainzer Erzbischof und Kardinal Albrecht von Brandenburg „gab die Sache nach Rom weiter, indem er die Thesen am 13. Dezember an den päpstlichen Hof sandte. […] Albrechts Reaktion lag irgendwo zwischen der Annahme, dass dieser Vorfall keine größere Bedeutung haben würde, und der Sorge um die Ordnung.“[79] Das Schreiben Albrechts traf wahrscheinlich Januar 1518 dort ein, damit wurde der Fall (Causa lutheri) in der römischen Kurie aktenkundig.[80] Leo X. wandte sich mit einem Breve vom 3. Februar 1518[81] an den Protomagister und Generalprior der Augustiner-Eremiten Gabriel della Volta, Gabriel Venetus (um 1468–1537), um auf jenen Priester seines Ordens so einzuwirken, dass er dem Volk keine neuen Lehren verkünde.[82]

Während sich die sächsischen Augustinereremiten im März 1518 fast gänzlich hinter Luther stellten, klagten ihn die sächsischen Dominikaner im gleichen Monat wegen Ketzerei in Rom an. Der Papst beauftragte daraufhin einen Hoftheologen, Silvester Mazzolini genannt Prierias, mit einem Gutachten zu Luthers Thesen.[83] Prierias arbeitete in seiner Stellungnahme (In praesumptuosas Martini Lutheri conclusiones de potestate papae dialogus) das Grundproblem deutlich heraus: die Frage der Autorität von Kirche und Papst.[84] Er ging in letzter Konsequenz so weit, nicht nur die Lehre, sondern auch die Praxis der Kirche für unfehlbar zu erklären, indem er formulierte: „Wer mit Blick auf die Ablässe sagt, die römische Kirche dürfe das nicht tun, was sie tatsächlich tut, der ist ein Ketzer.“[85] Weitere von Leo X. für die Causa lutheri beauftragte Beamte waren der päpstliche Fiskalprokurator Mario de Perusco, der eines der höchsten juristischen Ämter an der Kurie innehatte und der Bischof und spätere Nuntius Girolamo Ghinucci, dem es in seiner Funktion als auditor generalis oblag, allgemein die Qualität von Rechtsfällen zu untersuchen. Er hatte eine entscheidende Bedeutung für die Einleitung eines kanonischen Prozesses gegen Luther.[86]

Im Juli 1518 eröffnete die römische Kurie ein Verfahren gegen Luther, dessen Ergebnis ihm als citatio am 7. August 1518 zugestellt wurde. Er sollte sich binnen 60 Tagen in Rom einfinden, um sich gegen den Vorwurf der Häresie zu rechtfertigen. Sein Landesherr Friedrich der Weise erwirkte bei der Kurie Luthers Verhör auf dem Reichstag zu Augsburg.[84] Als die Resolutiones in Rom bekannt wurden, verschlechterte sich Luthers Situation im anstehenden Prozess einschneidend: in einem päpstlichen Breve vom 23. August 1518 wurde seine notorische, also offenkundige Ketzerei festgestellt, die Beweiserhebung war damit schon weitgehend abgeschlossen. Kardinal Thomas de Vio genannt Cajetan, der als päpstlicher Legat am Reichstag zu Augsburg teilnahm, war beauftragt, Luther in seine Gewalt zu bringen. Auch auf anderen Wegen suchte die Kurie, Luthers habhaft zu werden. Am 25. August 1518 schrieb der Protomagister der Augustinereremiten an den sächsischen Provinzial des Ordens, Gerhard Hecker, er solle Luther kraft apostolischer Autorität festnehmen, wobei die Mitglieder der Reformkongregation ihn hierin unterstützen möchten. Als Protomagister könne er über alle Helfer Luthers das Interdikt verhängen.[87]

Vom 12. bis 14. Oktober 1518 fanden mehrere Begegnungen Luthers mit Cajetan im Fuggerschen Stadtpalast, zugleich Cajetans Domizil während des Reichstages, statt. Luther wohnte im Karmelitenkloster Augsburg, dessen Prior Johannes Frosch ein Wittenberger Lizentiat war; ihm hatte der Kurfürst als Gegenleistung für Luthers Beherbergung die Kostenübernahme bei seiner anstehenden Promotion versprochen.[88] Cajetan war bereit, Luthers Widerruf väterlich anzunehmen; Luther aber wollte disputieren. Am dritten und letzten Tag seines Verhörs durch Cajetan legte Luther eine schriftliche Ausarbeitung vor, in dem er die Notwendigkeit der Glaubensgewissheit beim Sakramentsempfang hervorhob und sein neu gewonnenes Verständnis der Bibelstelle Röm 1,17 erläuterte.[89]

Nach dem Verhör wartete Luther einige Tage ab, ungewiss, was nun mit ihm erfolgen würde. Nichts geschah. Er verabschiedete sich mit einem auf den 18. Oktober datierten Brief von Cajetan; da er nicht widerrufen wolle, könne er nicht vor den Kardinal zurückkehren und wolle sich von Augsburg „anderswohin“ begeben. Am Abend des 20. Oktober, die Stadttore waren schon geschlossen, ließen ihn Freunde durch ein kleines Tor im Norden aus der Stadt hinaus. Der Ramsauer Prior Martin Glaser hielt ein Pferd für ihn bereit, in einem nächtlichen Ritt gelangte er bis Monheim. Über Nürnberg erreichte Luther am 31. Oktober wieder Wittenberg.[90]

Cajetan hatte in Augsburg erkannt, dass die kirchliche Ablasslehre durch die Bulle Unigenitus (1343) dogmatisch zu wenig abgesichert war. Das hatte Luther Möglichkeiten für seine eigene Argumentation eröffnet. Am 9. November 1518 erfolgte eine von Cajetan mitformulierte dogmatische Fixierung: In der Dekretale Cum postquam stellte Leo X. fest, „der Papst könne kraft seiner Schlüsselgewalt Sündenstrafen nachlassen durch die Austeilung des Schatzes der Verdienste Christi und der Heiligen. Der Ablass für die Toten wirke fürbittweise.“[91] Eine Begründung durch Bibel- oder Kirchenväterzitate wurde nicht gegeben. Diese nachgereichte Präzisierung erlaubte es, Luthers Position als häretisch zu kennzeichnen.

Unterdessen hatte Kurfürst Friedrich der Weise von Cajetan einen Brief erhalten, in dem dieser mitteilte, wie väterlich und gütig er gegen Luther verfahren sei, wie halsstarrig aber dieser den Widerruf seiner irrigen Meinungen verweigert habe. Es sei jetzt an dem Kurfürsten, den Mönch entweder nach Rom auszuliefern, oder ihn aus dem Kurfürstentum Sachsen zu vertreiben. Der Kurfürst, dem es außer um den Schutz Luthers auch um den Ruf der Wittenberger Universität ging, antwortete am 7. Dezember, dass Luthers Sache noch nicht genügend von Gelehrten diskutiert worden sei. Bis dies geschehen sei, betrachte man ihn in Kursachsen nicht als Ketzer und behalte ihn im Lande. Rom hätte mit der Bannung Luthers reagieren müssen, dies geschah aber aus politischen Rücksichten nicht.[92]

Am 12. Januar 1519 starb Kaiser Maximilian I. in der Burg von Wels. Er hatte seinen Enkel Carlos I., den König von Spanien, zu seinem Nachfolger bestimmt. Da dieser aber auch König der beiden Sizilien war, drohte dem Kirchenstaat eine Umklammerung. In diesem Kontext kam nun Luthers Landesherrn Friedrich III. als Mitglied des Kurfürstenkollegiums eine wichtige Rolle zu.[93] Deshalb ließ Leo X. Luthers Prozess zunächst ruhen und beauftragte Karl von Miltitz, den Kurfürsten für eine friedliche Lösung in der Glaubensfrage zu gewinnen.[94]

Die dabei erzielten Vereinbarungen[95] blieben aber wirkungslos durch die Kontroverse zwischen Karlstadt und Eck, in die Luther bald hineingezogen wurde und die auf der Leipziger Disputation (4. bis 14. Juli 1519) vor einer akademischen Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Die Initiative dazu ging von Karlstadt aus, der Eck herausgefordert hatte. Während noch geprüft wurde, ob Luther bei der Veranstaltung der Universität Leipzig als weiterer Disputant zugelassen werden könne, veröffentlichte Luther seine Thesenreihe gegen Eck, mit der völlig ungeschützten Schlußthese: „Daß die römische Kirche über die anderen gestellt sei, wird bewiesen aus den ganz kalten Dekreten der römischen Päpste, die in den letzten 400 Jahren entstanden sind. Gegen sie stehen die anerkannte Geschichtsdarstellung von 1100 Jahren, der Text der [Heiligen] Schrift und das Dekret des für alle heiligen Konzils von Nicaea“, welches die Gleichrangigkeit der altkirchlichen Patriarchate festgelegt hatte.[96] Luthers hatte sich damit auch im Kollegenkreis isoliert und vertiefte sich in Kirchenrecht und Kirchengeschichte, um Ecks Angriffen auf diese These begegnen zu können. Dadurch radikalisierten sich seine Positionen: das Papsttum konnte er als irdische Institution noch anerkennen, aber ohne den Nimbus einer überirdischen Stiftung und Berufung. Die Päpste seien nicht irrtumslos und hätten nicht das Monopol der richtigen Bibelauslegung. Im Hintergrund begann die Frage Luther umzutreiben, ob der Papst womöglich der Antichrist sei.[97]

Höhepunkt der Veranstaltung war die Auseinandersetzung zwischen Eck und Luther über den päpstlichen Primat. Luther argumentierte mit der Gleichrangigkeit der altkirchlichen Patriarchate; Eck bezeichnete ihn daraufhin als Anhänger des als Häretiker verbrannten Jan Hus, der diese Meinung vertreten habe. Indem Eck Luther mit der Autorität des Konzils von Konstanz konfrontierte, das Hus verurteilt hatte, brachte er ihn in argumentative Schwierigkeiten. Denn Luther versuchte, an der Autorität von Konsensentscheidungen der versammelten Bischöfe festzuhalten, musste dann aber einräumen: „Auch Konzile können irren.“ Damit stand er nach Ecks Urteil außerhalb der Kirchengemeinschaft.[98]

Nachdem Karl am 28. Juni 1519 zum Kaiser gewählt worden war, nahm die Kurie Luthers Häresieprozess im Frühjahr 1520 wieder auf. Nach einem weiteren ergebnislosen Verhör vor Cajetan erließ der Papst am 15. Juni 1520 die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine. Sie verdammte 41 Sätze, die bis auf einen sinngemäß formulierten Satz wörtliche Zitate aus Luthers Schriften sind. Die Themenkreise Buße, Ablass, Fegefeuer, Papsttum und Anthropologie wurden damit angesprochen. Eine argumentative Widerlegung dieser Sätze gab es nicht; Luther und seinen Anhängern wurden 60 Tage für den Widerruf ihrer Irrtümer eingeräumt. Mit der Bekanntmachung der Bulle wurden Johannes Eck (Sachsen, Kursachsen, Oberdeutschland) und der Humanist Hieronymus Aleander (Niederlande, Westdeutschland) als päpstliche Nuntien beauftragt.[99]

Als es 1518 in Augsburg zwischen Luther und dem päpstlichen Gesandten und Kardinal Cajetan zu einer offenen Konfrontation gekommen war, entband Staupitz seinen Schützling, dem er nach Augsburg nachgereist war, von seiner Gehorsamspflicht gegenüber dem Augustinerorden.[100] War dies eine Maßnahme, die wohl dem Schutz Luthers diente, so lässt sich Staupitz’ Rücktritt von seinen Ordensämtern im Jahr 1520 als Distanzierung von der sich radikalisierenden reformatorischen Entwicklung verstehen.

Reichstag zu Worms, Reichsacht und vorgetäuschte Gefangennahme (1521)

Im Oktober 1520 widmete Luther Papst Leo X. seine Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen und appellierte an ein neues Konzil. Am 10. Dezember 1520 fand auf dem Schindanger vor dem Wittenberger Elstertor eine Bücherverbrennung statt, zu der Melanchthon die Universitätsangehörigen eingeladen hatte. Johann Agricola organisierte diese Aktion und warf mehrere Bände des Kanonischen Rechts, das Beichthandbuch des Angelus de Clavasio (Summa angelica), sowie einige Schriften von Eck und Emser ins Feuer. (Er hatte auch die Summe des Thomas von Aquin und den Sentenzenkommentar des Duns Scotus angefordert, aber die Wittenberger Theologen gaben sie nicht heraus.) Dann trat Luther hinzu und warf einen Druck der Bannandrohungsbulle in die Flammen.[101]

Am 3. Januar 1521 wurde Luther mit der Bannbulle Decet Romanum Pontificem exkommuniziert.[102] Dies und seine reformatorischen Hauptschriften machten Luther im ganzen Reich bekannt. Der Buchdruck, die allgemeine soziale Unzufriedenheit und politische Reformbereitschaft verhalfen ihm zu einem außergewöhnlichen publizistischen Erfolg: Bis zum Jahresende waren bereits 81 Einzelschriften und Schriftsammlungen von ihm erschienen, vielfach in andere Sprachen übersetzt, in insgesamt 653 Auflagen.[103] In vielen Ländern regten sich ähnliche Reformbestrebungen, die stark von den politischen Spannungen zwischen Fürstentümern und Zentralmächten bestimmt wurden.

Kurfürst Friedrich der Weise erreichte auf dem Verhandlungsweg, dass Luther seine Position vor dem nächsten Reichstag nochmals erläutern und verteidigen durfte.[104]

Luther begab sich mit seinen Gefährten am 2. April 1521 auf die Reise nach Worms, wofür die Stadt Wittenberg ihm ein Zehrgeld mitgab und einen Rollwagen mit Schutzdach zur Verfügung stellte. Da Mönche traditionell zu zweit reisten, wurde er von dem Mitbruder Johann Petzensteiner begleitet. Zur Reisegesellschaft gehörten außerdem Nikolaus von Amsdorff, der pommersche Adlige Peter von Suaven sowie (ab Erfurt) Justus Jonas.[105]

Am 17. April 1521 stand Luther vor Kaiser Karl V. und dem Reichstag zu Worms, wurde vor den im dortigen Bischofshof versammelten Fürsten und Reichsständen verhört und letztmals zum Widerruf aufgefordert. Nach einem Tag Bedenkzeit und im Wissen, dass dies seinen Tod bedeuten könne, lehnte er mit der Begründung ab:

„… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“[106]

Am Morgen des 19. April verhandelte der Kaiser mit den Ständen über das weitere Vorgehen. Die Stände baten um Bedenkzeit. Der Kaiser ließ daraufhin seine eigene Position vortragen: Im Bewusstsein seiner dynastischen Tradition sehe er sich als Schutzherr des katholischen Glaubens, und gewiss sei ein einzelner Ordensbruder im Irrtum, wenn seine Meinung gegen die der ganzen Christenheit stehe. Er werde alles in seiner Macht Stehende gegen diesen notorischen Häretiker unternehmen; das erwarte er auch von den Ständen. Die Stände wollten aber am 20. April noch einen Ausgleichsversuch unternehmen. Ein weiteres Gelehrtengespräch sollte Luther von seinen Irrtümern überzeugen. Dazu gewährte der Kaiser am 22. April drei Tage Zeit, danach sollte die Reichsacht unmittelbar ausgehen.[107] Eine reichsständische Kommission versuchte daraufhin, Luther um der Einheit der Kirche willen zum Einlenken zu bewegen. Hieronymus Vehus (Kanzler des Markgrafen von Baden) und Conrad Peutinger (für die Stadt Augsburg), zwei Humanisten, kamen Luther als Unterhändler dabei sehr weit entgegen. Jedoch blieben auch diese Gesprächsgänge ergebnislos. Am Abend des 25. April teilte ein kaiserlicher Rat Luther daher offiziell mit, er solle aufbrechen.[108] Luther war aber auch darüber informiert, dass sein Landesherr ihn in Sicherheit bringen würde. Am 28. April schrieb er ganz offen an Lukas Cranach: „Ich laß mich eintun und verbergen, weiß selbst noch nicht wo.“[109]

Von Worms aus trat die Reisegruppe am Freitag, den 26. April 1521 den Rückweg nach Wittenberg an. Über Frankfurt am Main, Friedberg, Grünberg und Hersfeld wurde Eisenach am 2. Mai erreicht. Luther ließ Hieronymus Schurff, Jonas und Suaven allein weiterreisen, da er seine Verwandten in Möhra besuchen wolle. Er hatte jetzt nur noch Petzensteiner und den in die Planungen eingeweihten von Amsdorff bei sich. In einem Hohlweg bei der Burg Altenstein fand am 4. Mai der geplante Überfall mehrerer mit Armbrust bewaffneter Reiter auf Luthers Reisewagen statt. Petzensteiner flüchtete, Amsdorff protestierte laut, und Luther wurde von den Bewaffneten auf Umwegen zur Wartburg gebracht, wo er spät abends eintraf.[110]

Am 26. Mai 1521 verhängte der Reichstag das vom Kaiser gezeichnete Wormser Edikt über ihn. Man hatte es auf den 8. Mai zurückdatiert. Es verbot unter Berufung auf die Bannbulle im gesamten Reich, Luther zu unterstützen oder zu beherbergen, seine Schriften zu lesen oder zu drucken, und gebot, ihn festzusetzen und dem Kaiser zu überstellen. Das Edikt war über ein Jahrzehnt ein effektives Werkzeug zur Unterdrückung der reformatorischen Bewegung. Obwohl nur dürftige Daten die Zusammenhänge belegen, sie sind in den Deutsche Reichstagsakten, jüngere Reihe (DRTA.Jr)[111] hinterlegt, hatte Friedrich der Weise am Donnerstag, den 23. Mai 1521, kurz vor seiner Abfahrt mit Karl V. eine Absprache bezüglich der Anwendung der Reichsacht auf seinem Territorium getroffen: Das Kurfürstentum Sachsen erhielt kein Achtmandat zugestellt.[112] Der Kaiser riskierte keinen Konflikt mit einem mächtigen Reichsfürsten, und diese Konstellation rettete Luther. „Der sächsische Kurfürst konnte jahrelang so tun, als existiere das Wormser Edikt für ihn nicht.“[113]

Wartburgzeit (1521–1522)

Auf der Wartburg gab es ein Quartier für adlige Gefangene (Stube und Schlafkammer); hier war Luther vom 4. Mai 1521 bis zum 1. März 1522 unter der Aufsicht des Burghauptmanns Hans von Berlepsch untergebracht. Er legte die äußeren Kennzeichen des Mönchs (Habit, Tonsur) ab und nahm in Kleidung, Haar- und Barttracht die Identität eines Ritters („Junker Jörg“) an.[114] Alle Kontakte nach außen liefen über Spalatin, der die ein- und abgehenden Schriften im Sinne der kursächsischen Politik weitergab oder zurückhielt.[115] Luther entfaltete eine intensive schriftstellerische Tätigkeit. Er versuchte, auf die von der Reformation ausgelösten sozialen und gottesdienstlichen Veränderungen in Wittenberg (Wittenberger Bewegung) Einfluss zu nehmen. Diese wurden durch Karlstadt als Prediger an der Stadtkirche und Gabriel Zwilling als Prediger im Augustinerkloster vorangebracht; Melanchthon wurde als Laie in dieser Rolle nicht akzeptiert (Luther versuchte, ihm einen Predigtauftrag zu verschaffen, aber das Allerheiligenstift lehnte ab).[116] Die Dynamik der Veränderungen war erheblich. Karlstadt feierte an Weihnachten 1521 das Abendmahl in einer schlichten Form. Die zahlreichen Gemeindemitglieder, darunter die Repräsentanten von Stadt und Universität, empfingen Brot und Wein, ohne gebeichtet und gefastet zu haben, und nahmen den Kelch selbst in die Hände. An Neujahr, dem folgenden Sonntag und beim Epiphaniasfest nahmen jeweils über tausend Menschen an dieser gegenüber der heiligen Messe neuen Abendmahlsform teil.[117]

Im Mai 1521 heirateten die ersten Priester und folgten damit Luthers Kritik am Zölibat, woraufhin sie Disziplinarmaßnahmen ihrer Bischöfe ausgesetzt waren. Trotzdem folgten 1521/22 zahlreiche Kleriker ihrem Beispiel. Eine Klosteraustrittsbewegung kam hinzu, wodurch sich das Problemfeld um die Gültigkeit der Klostergelübde vergrößerte. Luthers eigener Konvent geriet in eine schwere Krise. Wenzeslaus Linck berief deswegen für den 6. Januar 1522 ein außerordentliches Kapitel nach Wittenberg ein. In dieser Situation schrieb Luther im November 1521 ein Gutachten über die Mönchsgelübde (De votis monasticis… iudicium). Darin fand er seine Lösung der Gelübdefrage in der Freiheit des Evangeliums: Ein Gelübde, das gegen die evangelische Freiheit verstoßt, ist nichtig, wenn es unter der Voraussetzung abgelegt wurde, dass der Ordensstand notwendig ist, um Gerechtigkeit und Heil zu finden. Spalatin hielt diese brisante Schrift bis zum Februar 1522 zurück.[118]

Anfang Dezember 1521 unternahm Luther einen Ritt nach Wittenberg, um sich inkognito ein Bild der Lage zu machen. Er wohnte bei Melanchthon. In einem Brief an Spalatin äußerte er sich erfreut über die Veränderungen.[119] Bei diesem Treffen regte Melanchthon an, das NT ins Deutsche zu übersetzen, was Luther für den Rest seines Wartburgaufenthalts beschäftigte. Grundlage für Luthers Arbeit war die zweite Auflage des von Erasmus herausgegebenen griechischen NT. Diese Edition enthielt auch Erasmus’ Übersetzung ins Lateinische und erklärende Anmerkungen, „deren sich Luther vielfach bediente, auch wenn er sie in der Eile nicht ganz ausschöpfte.“[120] Luther schloss die Arbeit in nur elf Wochen ab (Septembertestament).

Um die Jahreswende 1521/22 kamen die sogenannten Zwickauer Propheten nach Wittenberg. Besonders die Biblische Exegese des ehemaligen Wittenberger Studenten Markus Thomae genannt Stübner beeindruckte Melanchthon und Amsdorff. Sie hielten es für möglich, dass die Zwickauer vom Heiligen Geist inspiriert seien. Stübner kritisierte die Säuglingstaufe. An Neujahr beriet sich der Kurfürst deswegen mit Amsdorff und Melanchthon in Prettin. Eine Rückberufung Luthers, von Melanchthon gewünscht, schien dem Kurfürsten unnötig. Die Zwickauer sollten aus der Bibel belehrt werden, aber kein Forum für eine Disputation erhalten. Die Brisanz des Themas Säuglingstaufe wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt – auch von Luther nicht, der sich brieflich zu Wort meldete. Er kritisierte, dass die Zwickauer anscheinend keine Anfechtungen erlebten, diese aber zu einer authentischen Gotteserfahrung dazugehörten. Von den Zwickauer Propheten blieb nur Stübner länger in Wittenberg und gewann hier einzelne Anhänger.[121]

Am 24. Januar beschloss der Wittenberger Rat eine Kirchenordnung, an der auch die Professorenschaft beratend beteiligt gewesen war. Neben der Abschaffung der Altäre und Heiligenbilder und der Reform des Gottesdienstes waren soziale Änderungen vorgesehen. Aus den kirchlichen Einnahmen wurde der „Gemeine Kasten“ begründet, ein Fonds, der Arme direkt oder mit Darlehen unterstützen sollte. Bettelei wurde verboten. Die unerwarteten Folgen waren ein gewaltsamer Bildersturm sowie ein Abwandern der Studenten aus Wittenberg – teils wurden sie von ihren Familien zurückgerufen, teils waren sie für ihren Unterhalt aufs Betteln angewiesen gewesen. Die kurfürstliche Regierung verbot am 13. Februar alle Neuerungen. Sie untersagte Karlstadt und Zwilling, die man für die Unruhen verantwortlich machte, das weitere Predigen. Am 9. Februar begann ein neues Amtsjahr des Stadtrats, zu dem nun Luthers enge Freunde Lucas Cranach und Christian Döring gehörten. Sie setzten sich für seine Rückkehr nach Wittenberg ein. Der Kurfürst war im Blick auf die politischen Risiken unentschieden. Luther selbst strebte schon länger nach Wittenberg zurück. Ihm fehlte der kollegiale Austausch, den er für seine schriftstellerische Tätigkeit, besonders die Bibelübersetzung, brauchte. Der Jurist Hieronymus Schurff half Luther, im Auftrag des Kurfürsten ein Schreiben zu verfassen, in dem er die Gründe seiner Rückkehr – Sorge für die Gemeinde, Verhinderung eines Aufstands des gemeinen Mannes – darlegte. So hoffte man, künftigen reichsrechtlichen Problemen durch Luthers Auftreten in Wittenberg begegnen zu können.[122]

Prediger in Wittenberg (1522–1524)

Luther verstand sich in den Jahren 1522 bis 1524 in erster Linie als Prediger an der Wittenberger Stadtkirche. An die Universität kehrte er, der Geächtete, zunächst nicht zurück.[123] Er trat nach seiner Rückkehr von der Wartburg in der Wittenberger Öffentlichkeit im Habit und mit frischgeschnittener Tonsur auf. Vom Sonntag Invocavit, dem 9. März 1522, an predigte er acht Tage in Folge (Invokavitpredigten) und nahm zu den Reformen Stellung, die die Wittenberger durchgeführt hatten: Abschaffung von Messe und Beichte, Priesterehe, Aufhebung der Fastengebote, Beseitigung der religiösen Bilder, Abendmahl unter beiderlei Gestalt. „Durchweg hält Luther die Forderungen der Reformer für richtig, ja er erkennt sie als Frucht seiner eigenen Gedanken an. Nicht was reformiert worden ist, sondern wie reformiert worden ist, greift er an: […] daß man auf die Schwachen, noch am Hergebrachten Hängenden keine Rücksicht nahm …“[124] Er zog wieder ins Augustinerkloster ein und lebte dort mit den wenigen verbliebenen Mönchen. Die Einkünfte brachen dem Kloster weg, die finanzielle Situation war prekär. Zuletzt wohnten nur noch der Prior Eberhard Brisger und Luther selbst in dem weitläufigen Bau. Am 9. Oktober 1524 erschien Luther erstmals in weltlicher Kleidung in der Öffentlichkeit.[125]

Die Veränderungen der Messe wurden im März 1522 vollständig zurückgenommen bis auf die Möglichkeit, auf eigenen Wunsch das Abendmahl in beiderlei Gestalt zu empfangen. In seinen Predigten kritisierte Luther aber kontinuierlich die herrschende Praxis. Damit erreichte er etwa, dass das Sakrament bei der Fronleichnamsprozession nicht mehr mitgeführt wurde; 1524 wurde Fronleichnam in Wittenberg nicht mehr begangen, wohl aber im benachbarten Kemberg. Ab Anfang 1523 hielt Luther die Gemeinde für so weit vorbereitet, dass das Abendmahl in beiderlei Gestalt gereicht wurde; wer damit ein Problem hatte, galt jetzt als verstockt. Im Allerheiligenstift behauptete sich zunächst unter dem Schutz des Kurfürsten der alte Ritus, für den aber Ende 1524 nur mehr drei Stiftsherren eintraten, die sich einem Ultimatum des Rats und der Universität beugten.[126]

Luther wurde zu Predigten in anderen Städten eingeladen, so unternahm er im April und Mai 1522 eine Rundreise nach Borna, Altenburg, Zwickau und Torgau. Er hielt die Wahl des Predigers für ein Recht der Gemeinde und setzte sich daher für Gabriel Zwilling ein, den man in Altenburg gewählt hatte – letztlich erfolglos, denn wegen Zwillings Rolle in Wittenberg akzeptierte der Hof diese Besetzung nicht, und Wenzeslaus Linck trat die Stelle in Altenburg an. In Wittenberg wählte der Stadtrat Johannes Bugenhagen als Prediger der Stadtkirche, womit Luther neben Melanchthon einen weiteren engen Mitarbeiter, zugleich auch seinen persönlichen Seelsorger fand.[127]

Ende Mai 1522 erschien das Betbüchlein, das ein großer buchhändlerischer Erfolg war. Zu Luthers Lebzeiten erschienen etwa 35 Auflagen. Das Buch enthielt Auslegungen der Zehn Gebote, zum Glaubensbekenntnis, Vaterunser und Ave Maria. Es sollte an die Stelle der bisher beliebten Beichtspiegel und Andachtsbücher treten. Das etwa gleichzeitige Taufbüchlein war eine sehr konservative Übertragung des wohl in Wittenberg üblichen lateinischen Formulars (Exorzismus, Salzgabe, Ohrenöffnung, Salbung, Westerhemd, Taufkerze); 1526 erschien eine überarbeitete Version.[128]

Luthers Positionierung im Bauernkrieg (1524–1525)

Luther erfand für seine Gegner eine Reihe von wertenden Bezeichnungen, die von der konfessionellen Geschichtsschreibung unbesehen übernommen wurden und sich auf diese Weise etablierten: „Schwärmer“ nannte er Christen, die irgendwie Unruhe verursachten (dahinter steht das Bild schwärmender Bienen). Wer religiöse Bilder aus Kirchen entfernte, war ein „Bilderstürmer“, wer sich in abgesonderten Gruppen traf, ein „Rottengeist“; diese beiden Begriffe beinhalten den Aspekt des Illegitimen und Gewalttätigen.[129]

In deutschen Gebieten kam es 1524 bis 1526 zum Bauernkrieg. Auch in einigen Städten erhoben sich ärmere Schichten gegen herrschende Patrizier und den Klerus. Mit den 12 Artikeln gaben sich die Aufständischen einheitliche Ziele, die von der bloßen Wiederherstellung ihrer Gewohnheitsrechte bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft und zu demokratischen Grundrechten reichten. Sie beriefen sich dabei auf das „göttliche Recht“ und Luthers Schriftprinzip sola scriptura. Wie er erklärten sie sich bereit, ihre Forderungen fallenzulassen, sobald man ihnen aus der Bibel ihr Unrecht beweise. Dies gab ihren schon früher religiös begründeten Hoffnungen auf soziale Befreiung erstmals Durchschlagskraft.[130]

Luther distanzierte sich von den 12 Artikeln wegen ihrer aus seiner Sicht falschen Berufung auf die Bibel. In der wohl vor dem 6. Mai gedruckten Flugschrift Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauerschaft in Schwaben griff er einige berechtigte Forderungen der Bauern auf (die er hier allerdings schon als „Rotten- und Mordgeister“ etikettierte) und wies sowohl sie als auch die Fürsten zurecht. Die Ermahnung fand zwar mit 19 Drucken 1525 eine recht weite Verbreitung, kam aber zeitlich zu spät, um auf den Gang der Ereignisse Einfluss zu nehmen. Auf einer Reise nach Eisleben Anfang Mai 1525 predigte Luther über die Leidensbereitschaft des Christen und traf auf eine aggressive Zuhörerschaft. Hier standen die Bauern unter dem Eindruck von Thomas Müntzers Lehre von der Gleichheit aller Menschen.[131] Direkt nach der Rückkehr nach Wittenberg am 6. Mai verfasste Luther seine Schrift Wider die Mordischen und Reuberischen Rotten der Bawren. In ihr verdammte er die Aufstände als Werk des Teufels und forderte alle Fürsten gleich welcher Konfession dazu auf, die Bauern mit aller notwendigen Gewalt niederzuschlagen. Müntzer sei der „Erzteufel von Mühlhausen“. Er forderte: „Drum soll hie zuschmeißen (zerschmettern), würgen, und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, denn ein aufrührerischer Mensch, gleich als wenn man einen tollen Hund totschlagen muß, schlägst du nicht, so schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir.“[132] Am 15. Mai wurden die thüringischen Bauern in der Schlacht bei Frankenhausen durch Philipp von Hessen, Georg von Sachsen, Heinrich von Braunschweig sowie Albrecht und Ernst von Mansfeld vernichtend geschlagen. Müntzer wurde wenige Tage später gefasst und enthauptet. Luther hat sich später in Predigten und vor allem Tischreden gern auf Müntzer als auf seinen theologischen Erzfeind bezogen: „Ich (!) habe Müntzer getötet, der Tod liegt auf meinem Hals. Ich habe es aber deswegen getan, weil er meinen Christus töten wollte.“[133] Durch Propagandaschriften aus Luthers Umkreis (Agricola: Ein nützlicher Dialog zwischen einem müntzerischen Schwärmer und einem evangelischen Bauern, Melanchthon: Historie Thomas Müntzers) wurde Müntzers Bild in der Geschichtsschreibung stark geprägt.[133]

Heirat mit Katharina von Bora (1525)

Ende Mai oder Anfang Juni wurde in Wittenberg bekannt, dass Luther Katharina von Bora heiraten wolle, eine von insgesamt elf Zisterzienserinnen, die 1523 aus dem Kloster Marienthron nach Wittenberg geflohen waren; sie hatte danach Aufnahme im Hause Lucas Cranachs gefunden. Die Meinung der Freunde zu dieser Ehe war einhellig negativ. Um weiterer Kritik zuvorzukommen, erfolgten die nächsten Schritte nun rasch. Am Abend des 13. Juni fand im Augustinerkloster als dem Hochzeitshaus die Verlobung statt; Zeugen waren Bugenhagen, Justus Jonas, Johann Apel und das Ehepaar Cranach. Direkt danach vollzog Bugenhagen die Trauung. In bürgerlichen Familien war es damals üblich, im eigenen Haus zu heiraten. Die Zeugen geleiteten das Brautpaar anschließend in die Schlafkammer, wo sich die beiden auf das Ehebett legten. Am Folgetag luden sie die Zeugen zu einem kleinen Essen ein, wodurch das Ereignis in der Stadt bekannt wurde. Melanchthon war bei den Planungen übergangen worden und äußerte sich in einem (aus Gründen der Diskretion griechisch abgefassten) Brief an Joachim Camerarius der Ältere kritisch: Er missbilligte erstens den Zeitpunkt mitten im Bauernkrieg und zweitens die Braut, eine ehemalige Nonne.[134] Das Hochzeitsfest mit den auswärtigen, dazu eingeladenen Gästen wurde auf den 27. Juni angesetzt. Die Stadt schenkte Luther 20 Silbergulden und ein Fass Einbecker Bier.[135]

Das Ehepaar war mehr oder weniger mittellos, aber durch die Hochzeitsgeschenke kam die Basis für den gemeinsamen Hausstand zusammen. Sogar Albrecht von Brandenburg schenkte 20 Gulden. Kurfürst Johann der Beständige überließ Luther das ehemalige Augustinerkloster als Wohnung und setzte ihm 200 Gulden als Professorengehalt aus.[136] Wie in einem Professorenhaushalt üblich, betrieb Katharina Luther eine Burse, die eine zusätzliche Einnahmequelle darstellte.

Martin und Katharina Luther hatten drei Töchter und drei Söhne, die alle in Wittenberg geboren wurden:

Johannes (* 7. Juni 1526 in Wittenberg, † 27. Oktober 1575 in Königsberg),

Elisabeth (* 10. Dezember 1527 in Wittenberg, † 3. August 1528 in Wittenberg),

Magdalena (* 4. Mai 1529 in Wittenberg, † 20. September 1542 in Eisleben),

Martin (* 9. November 1531 in Wittenberg, † 2. März 1565 in Wachsdorf),

Paul (* 28. Januar 1533 in Wittenberg, † 8. März 1593 in Leipzig),

Margarete (* 17. Dezember 1534 in Wittenberg, † 1570 in Mohrungen).

Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam (1524–1525)

Bauernkrieg und Heirat Luthers waren verzögernde Momente in der Kontroverse mit Erasmus, deren Anfänge weit zurückreichen. Erasmus hatte seit Bekanntwerden der 95 Thesen die Erwartung, dass sich daraus die von ihm erhoffte Reform der Kirche entwickeln könnte; seine Korrespondenz zeigt, dass er Luthers Aktivitäten im Blick hatte, ohne dessen Parteigänger zu werden. Um nicht in den Prozess Luthers verwickelt zu werden, betonte er aber ab 1521 immer deutlicher seine Distanz zu ihm, was Luther als „Feindschaft“ interpretierte. Beide Seiten hatten kein Interesse, den Konflikt auf offener Bühne auszutragen und beließen es einstweilen bei Warnungen, die der je anderen Seite durch Indiskretionen bekannt werden sollten.[137]

Am 1. September 1524 erschien Erasmus’ Schrift „Gespräch oder Vergleichung vom freien Willen“ im Druck. Sie war schon länger fertiggestellt, und nachdem ihre Existenz gerüchteweise bekannt worden war, konnte oder wollte Erasmus sie nicht länger zurückhalten. Er plädierte für ein schlichtes, praktisch ausgerichtetes Christentum. Er nahm „irgendeine Kraft des freien Willens“ an. Der Christ solle sich den Vorschriften für ein gutes Leben zuwenden, die er in Bibel und Tradition finde, alles Gute, was daraus entstehe, der Güte Gottes zuschreiben und sich unnötiger Spekulationen enthalten. In der Bibel gebe es dunkle Stellen, zu deren Verständnis man die Auslegungstradition der Kirche brauche.[138] Die Schrift war im Ton ein unpolemischer Vermittlungsvorschlag.[139]

Ende September wurde De libero arbitrio in Wittenberg bekannt. Ein Reflex Luthers darauf findet sich in der damals verfassten Vorrede auf den Prediger Salomo; nach Luthers Meinung war dieses ganze biblische Buch gegen den freien Willen gerichtet (was dessen Rezeption im Luthertum prägen sollte). Von verschiedenen Seiten wurde Luther zu einer Widerlegung des Erasmus gedrängt, da die Reformation unter Humanisten Anhänger verlor. Aber die Fertigstellung schleppte sich hin. Am 31. Dezember 1525 erschien schließlich De servo arbitrio im Druck. Der Titel „Vom geknechteten (versklavten) Willen“ zitiert Augustinus. Luther kritisierte, dass Erasmus, obwohl Skeptiker, Festsetzungen der Bibel und der kirchlichen Tradition anerkenne und sich ihnen unterwerfe. Die Bibel sei kein dunkles, sondern ein klares Buch, das von seiner Mitte Jesus Christus her verständlich sei. Dunkle seien durch klare Bibelstellen erklärbar.[140]

Luthers hier entwickeltes Konzept von der claritas scripturae, der Klarheit der Schrift, als Prinzip aller Theologie wurde zur reformatorischen Wende, zum exegetischen und hermeneutischen Paradigmenwechsel.[141] Sola scriptura heißt, dass einer sachgerechten Bibelauslegung der Vorzug gegenüber kirchlicher Tradition und sonstigen möglichen Quellen für theologische Urteils- und Lehrbildung zu geben ist. Die Bibel kann allein dieser Aufgabe gerecht werden, weil sie nach Luthers Überzeugung in sich selbst klar genug ist. Das erkenntnisleitende Prinzip ist eine doppelte Klarheit. So präsentiert der Inhalt der Bibel, die äußere Klarheit des Textes und wird durch die innere Klarheit bestätigt, die der Heilige Geist im Herzen des Hörers oder Lesers bewirkt. Die Bibel gewinnt die notwendige Klarheit dort, wo sie sich selbst interpretiert, sacra scriptura sui ipsius interpres, das heißt die Schrift sorgt also selbst für ihre Auslegung, sie ist ihr eigener Interpret.[142] So lege die Schrift sich selbst aus, weil sie durch Gottes Geist erschlossen werde – durch das innere Wort, verbum internum des Heiligen Geistes, das als verbum externum hinzutritt – darin zeige sich auch ihre Inspiration und ihre Offenbarungstätigkeit. Angemessen auslegen und verstehen kann der Leser die Schrift nur, wenn man sich „ihren Worten“, claritas externa stelle und von „ihrer Sache“, claritas interna, ergriffen sei.

Erasmus antwortete auf Luthers gegen ihn und seinen Glauben gerichtete scharfe Polemik mit einer schriftlichen Selbstverteidigung (Hyperaspites, „Schildhalter [zur Abwehr von Spitzen]“), für die sich Luther aber nicht weiter interessierte, so dass die Auseinandersetzung abbrach. Nach Martin Brecht wurde De servo arbitrio von den Zeitgenossen nicht als pauschale Absage an den Humanismus verstanden. „Der Humanismus lebte zunächst fort in dem Rahmen, den die reformatorische oder die altgläubige Seite ihm einräumten.“[143]

Konsolidierung der Reformation

Friedrich der Weise war mitten im Bauernkrieg verstorben. Es war bekannt, dass sein Nachfolger Johann der Beständige der Reformation wohlwollend gegenüberstand. Lief die Kommunikation Luthers mit seinem Landesherrn bisher nur über Spalatin und betrieb der Hof in vielen Punkten eine bremsende und abwartende Politik, so wurde dies unter seinem Nachfolger anders. Johann der Beständige stand in direktem Austausch mit Luther und traf ihn mehrfach. Die sieben Jahre seiner Regierung ermöglichten den Aufbau von neuen kirchlichen Ordnungen in Kursachsen.[144]

Deutsche Messe

Nachdem einige Städte seit 1522 die Heilige Messe in deutscher Sprache eingeführt hatten, begann Luther 1525 mit der Arbeit an einer deutschen Liturgie. Er ließ sich dabei von Johann Walter und dem kurfürstlichen Kapellmeister Konrad Ruppsch beraten. Am 29. Oktober wurde der Entwurf der Wittenberger Gemeinde vorgestellt; der Zelebrant war Georg Rörer. An Weihnachten wurde die Deutsche Messe eingeführt und erschien zum Jahresende im Druck. Sie war für die des Lateins unkundige Bevölkerung da, die auf diese Weise stärker beteiligt wurde. Lateinische Messen sollten weiterhin für die Lateinkundigen stattfinden, damit sie auch künftig in der Lage wären, in anderen Ländern am Gottesdienst teilzunehmen. Daneben schlug Luther eine dritte Form des Abendmahlsgottesdienstes für „die ienigen, so mit ernst Christen wollen seyn und das Euangelion mit hand und munde bekennen“[145] vor. Dabei hatte Luther wohl eine Art „Kerngemeinde“ vor Augen, die sich in Privathäusern trifft. Diese Gottesdienstform wurde zu Luthers Zeit nicht realisiert. Luther verdankte diesen Impuls wohl Kaspar von Schwenckfeld, der ihn im Dezember 1525 besuchte. Luther war wichtig, dass seine Messordnungen nicht als allgemein verbindlich angesehen werden sollten. Vielmehr sah er sie als Beispiele eines evangeliumsgemäßen Gottesdienstes. Im Januar 1526 legte ihm Matthäus Alber die Reutlinger Gottesdienstordnung vor (oberdeutscher Prädikantengottesdienst), und Luther hieß diese gut. Die Akzeptanz der Deutschen Messe in Wittenberg war aus Luthers Sicht unbefriedigend. Ein Jahr später war die Gemeinde mit den neuen Melodien noch nicht vertraut, und zwei Jahre später wurden die Lieder auch noch nicht beherrscht.[146]

Visitationen

Nachdem das bisherige katholische System zusammengebrochen war, ging es darum, die einzelnen Pfarreien mit geeigneten Predigern und Lehrern zu versorgen und deren Unterhalt zu regeln. Dem dienten die Visitationsreisen, die Luther und andere im Auftrag des Kurfürsten seit 1526 unternahmen. In dem Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum zu Sachsen (1528) gingen Luther und Melanchthon von einer einmaligen Aktion reformatorischer Neuordnung aus, die mit Hilfe der Obrigkeit durchgeführt werden sollte. Doch die Weichen waren damit gestellt: „Die Neuordnung in Kursachsen erfolgte nach einem aus dem Bischofsamt hergeleiteten Beaufsichtigungssystem von oben und nicht durch eine presbyterial-synodale Repräsentation der Gemeinden.“[147]

Antinomistischer Streit

Der erste antinomistische Streit war eine im Jahr 1527 entfachte theologische Kontroverse, die um die Frage der Geltung und Bedeutung des Gesetzes (der Tora), insbesondere der Zehn Gebote, im Leben eines Christen geführt wurde.[148]

Bei ihren Visitationen hatten Luther und Melanchthon beobachtet, dass die Predigt des Evangeliums in manchen Gemeinden leichtfertig vorgenommen wurde und zu einer ungebundenen Freiheit führte. Melanchthon kam zu der Überzeugung, dass das Gesetz, die Gebote Gottes, wieder stärker verkündigt werden müssten. Er verfasste im Jahre 1527 die Schrift Articuli de quibus egerunt per visitatores, zu der Luther ein Vorwort schrieb. In seinem Aufsatz forderte er, dass eine christliche Verkündigung die Predigt von der Buße und die von der Vergebung der Sünden enthalten müsse. Die Predigt von der Buße setze aber das Gesetz voraus. Dieser Position widersprach Johannes Agricola, mittlerweile Rektor in Eisleben. Er behauptete, dass für den Christen als Erweckungsmittel zur Buße nicht die Befolgung der Gebote des AT, sondern nur das Evangelium notwendig sei. Luther konnte auf dem Torgauer Colloquium (26.–29. November 1527) einen Kompromiss erzielen, bei dem Melanchthon weitgehend Recht bekam und eine eigentliche Klärung nicht erreicht wurde. Agricola entfremdete sich in der Folge den Wittenbergern, und da sowohl er wie auch Melanchthon bei ihren Meinungen verharrten, brach der Konflikt zwischen ihnen einige Jahre später wieder auf.[149]

Abendmahlsstreit und Marburger Religionsgespräch (1529)

Huldrych Zwingli hatte 1523 noch seine Übereinstimmung mit Luthers Abendmahlslehre betont. Dann lernte er die symbolische Deutung der Abendmahlsworte durch Cornelisz Hendricxz Hoen kennen, die für ihn sowie Johannes Oekolampad eine Verstehenshilfe wurde. Er sah das Abendmahl nun als Dank- und Bekenntnisfeier der Gemeinde.[150] Die Straßburger Reformatoren Martin Bucer und Wolfgang Capito waren von Zwinglis Abendmahlsverständnis beeindruckt und erbaten von Luther im Dezember 1524 eine Stellungnahme. Im sogenannten Syngramma Suevicum bekannten sich andererseits 14 Reformatoren aus dem schwäbischen Raum im Oktober 1525 zu Luthers Abendmahlsverständnis. Von beiden Seiten wurde nun eine große Abendmahlsschrift Luthers erwartet, aber dieser machte sich nicht an eine entsprechende Ausarbeitung. Der schlichte Sermon von dem Sakrament des Leibes und Blutes Christi wider die Schwarmgeister wurde wahrscheinlich ohne Zutun Luthers veröffentlicht und war für die theologische Diskussion mit Zwingli kaum geeignet.[151]

Anders als Luther widmete Zwingli nun einen großen Teil seiner Zeit dem Thema Abendmahl und arbeitete Luthers diesbezügliche Schriften durch. Die Amica exegesis war dem Titel nach eine „freundschaftliche Auseinandersetzung“ mit Luthers Thesen, aber der Sache nach hart: keine davon genügte Zwinglis wissenschaftlichen Ansprüchen.[152] Am 1. April 1527 sandte Zwingli Luther seine Amica exegesis zu. Luther reagierte verbittert. Praktisch gleichzeitig mit der Amica exegesis hatte er seine Abendmahlsschrift mit dem programmatischen Titel Daß diese Worte Christi «Das ist mein Leib» etc. noch fest stehen wider die Schwarmgeister veröffentlicht (Ubiquitätslehre). Die beiden Schriften nahmen keinen Bezug aufeinander, provozierten aber Entgegnungen, von Luthers Seite: Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (März 1528). Bei den Schweizern stieß Luthers emotionale und polemische Argumentationsweise auf Ablehnung.

Aus politischen Gründen strebte Landgraf Philipp von Hessen eine Überwindung des theologischen Konflikts an. Nach der Protestation zu Speyer war ein protestantisches Verteidigungsbündnis die naheliegende Konsequenz. Die Wittenberger versprachen sich wenig von einem Religionsgespräch, zu dem Philipp im Juni 1529 beide Seiten nach Marburg eingeladen hatte, sagten aber doch zu, nachdem Philipp über den Kurfürsten Druck auf sie ausgeübt hatte.[153] Auf Initiative des Markgrafen Georg von Brandenburg-Ansbach schrieben Luther und Melanchthon die Schwabacher Artikel als gemeinsame Glaubensbasis für ein künftiges Militärbündnis. Mit diesem Bekenntnistext, den sie Abgrenzung zu den Schweizern formuliert hatten, als Verhandlungsbasis[153] reiste die Wittenberger Delegation nach Marburg: Luther, Melanchthon, Jonas, Cruciger und Rörer. In Gotha schloss sich Friedrich Myconius und in Eisenach Justus Menius der Delegation an. Dort traf sie am 30. September ein; die Schweizer Delegation (Zwingli, Oekolampad, Bucer und Hedio) war bereits eingetroffen. Osiander und Brenz sowie der Augsburger Stephan Agricola fanden sich am 2. Oktober ein. Alle Diskussionsteilnehmer waren auf dem Marburger Schloss untergebracht. Die erste Kontaktaufnahme war freundlich, wobei Zwingli sich im Hintergrund hielt.

Nach getrennten Vorgesprächen kam man am Samstag, dem 2. Oktober in einer Stube des Schlosses im großen Kreis zusammen. Luther erklärte, die Einsetzungsworte („Das ist mein Leib“) seien nicht anders als wörtlich zu verstehen, man solle ihn aus der Bibel widerlegen. Oekolampad zitierte Joh 6 als Beleg dafür, dass der Leib Christi geistlich gegessen werden müsse. Luther gestand ihm zu, dass es ein solches geistliches Essen gebe, ging aber nicht von seinem buchstäblichen Verständnis der Einsetzungsworte ab. Christus sei im Abendmahl unsichtbar zugegen. In der nächsten Gesprächsrunde brachte Oekolampad das Argument, Christus sei nach der Auferstehung erhöht bei Gott dem Vater, und er könne nicht an zwei Orten zugleich sein. Zwingli ergänzte: Christus habe jetzt göttliche und nicht menschliche Gestalt (Phil 2,6 ff.). Luther schlug nun die samtene Tischdecke zurück, und man sah die Einsetzungsworte Hoc est corpus meum, die er zuvor mit Kreide auf die Tischplatte geschrieben hatte. Auf Zwingli machte dies keinen Eindruck. Er konnte nicht nachvollziehen, warum sich die Wittenberger dermaßen auf diesen Glaubensartikel versteiften.[154]

Am Sonntag wurde ergebnislos weiterdiskutiert. Der hessische Kanzler Johann Feige forderte nun beide Seiten auf, nach einer Einigung zu suchen. Da die Krankheit Englischer Schweiß grassierte, sollten die Gespräche möglichst abgekürzt werden. Am Montag forderte der Landgraf Luther dazu auf, die Artikel aufzustellen, über die man einig oder uneinig sei (Marburger Artikel). Luther legte dafür weitgehend die mitgebrachten Schwabacher Artikel zu Grunde. In vielen Punkten zeigten die Teilnehmer Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Als Differenz blieb nur die Frage der Gegenwart von Leib und Blut Christi im Abendmahl. Der Landgraf wirkte auf einen versöhnlichen Schluss hin: dass man einander christliche Liebe erweisen und Gott um das rechte Verständnis bitten wolle. Daraufhin reiste die Wittenberger Delegation am 5. Oktober ab.[155]

Reichstag zu Augsburg (1530)

Auf dem Reichstag zu Augsburg 1530 wollte sich Karl V. nach neunjähriger Abwesenheit erstmals wieder den Verhältnissen im Reich widmen und die Glaubensspaltung dort überwinden, um alle militärischen Kräfte zur Abwehr der Türken zusammenzuführen. Anlass war die Erste Wiener Türkenbelagerung von 1529. Die Ausschreibung war deshalb in versöhnlichem Ton gehalten. Kurfürst Johann der Beständige reiste mit seinem Gefolge, wozu auch Luther, Melanchthon und weitere Theologen gehörten, bis nach Coburg. In der Nacht vom 23. auf den 24. April 1530 wurde Luther auf die Veste über der Stadt gebracht. Hier blieb er bis zum 4. Oktober 1530, während die übrige Delegation nach Augsburg weiterzog. Veit Dietrich fungierte als eine Art Sekretär Luthers und Kontaktperson nach außen. Allzu geheim war Luthers Aufenthalt allerdings nicht. Er empfing zahlreiche Besucher und erfuhr dadurch auch vom Tod seines Vaters. Verschiedene Gelegenheitsschriften entstanden auf der Veste Coburg, zum Beispiel die Übersetzung einiger Fabeln des Äsop. Luther konnte am Reichstag zu Augsburg nur indirekt über seine Korrespondenz mit Melanchthon teilnehmen. Dieser versorgte ihn aber spärlich mit Informationen, da er eine von Luther abweichende Strategie verfolgte: Melanchthon fürchtete, dass Philipp von Hessen bei einem etwaigen Krieg mit den Schweizern und Straßburgern zusammengehen würde und suchte deshalb einen Ausgleich mit der altgläubigen Seite (hier vor allem: Albrecht von Mainz) und dem Kaiser. Sein Minimalvorschlag war die Wiederherstellung der bischöflichen Kirchengewalt, wenn der evangelischen Seite Laienkelch, Priesterehe und evangelische Messe zugestanden würden.[156] Das von Melanchthon auf der Grundlage der Schwabacher und Torgauer Artikel verfasste Augsburger Bekenntnis erhielt durch die Vorrede des kursächsischen Kanzlers Gregor Brück den Rang eines Bekenntnisses der lutherischen Fürsten und Stände; es wurde am 25. Juni 1530 durch den kursächsischen Kanzler Christian Beyer am 25. Juni 1530 vor dem Reichstag verlesen und übergeben. Luther akzeptierte diesen Text, kritisierte allerdings, dass die Themen Fegefeuer und päpstlicher Primat nicht darin vorkamen.[157]

Wittenberger Konkordie (1536)

Die Verständigung der oberdeutschen Reformatoren mit Luther in der Frage des Abendmahls ging auf die Initiative Martin Bucers zurück. Philipp von Hessen förderte das Projekt und lud dazu Melanchthon und Bucer für Weihnachten 1534 nach Kassel ein. Melanchthon bekam von Luther eine schroff gehaltene Instruktion mit auf den Weg. Luther betonte, dass der Leib Christi mit oder in dem Brot wahrhaft gegessen werde und sich sein Empfang nicht von dem des Brotes ablösen ließe.[158]

Melanchthon und Bucer einigten sich in Kassel Ende Dezember auf die Formel, dass der Leib Christi mit dem Brot wesentlich und wahrhaftig empfangen werde. Luther äußerte im Januar 1535 seine prinzipielle Zustimmung, wollte aber noch auf Reaktionen der oberdeutschen Städte warten, die ihm ihre Vertrauenswürdigkeit erst beweisen sollten. Ein solches Signal war die Berufung von Johann Forster als Prädikant nach Augsburg.[159] Nun schlug Luther für den Abschluss der Konkordie eine Zusammenkunft in einer Stadt Kursachsens vor. Kurfürst Johann Friedrich lud dazu nach Eisenach ein. Von April bis Juni trat bei Luther erstmals ein akutes Harnsteinleiden auf.[160] Deshalb fand das Treffen vom 21. Mai bis 28. Mai 1536 in Luthers Haus in Wittenberg statt.

Dass Zwinglis Schrift Fidei christianae expositio just zu diesem Zeitpunkt in Zürich neu gedruckt worden war, fasste Luther als Provokation auf und forderte gleich eingangs der Gespräche in „unerwartet schroffer und geradezu einschüchternder Weise“ von Bucer und den Repräsentanten der oberdeutschen Städte den ausdrücklichen Widerruf.[161] Danach wurden die Verhandlungen wegen Luthers Schwäche unterbrochen; die Gäste waren schockiert und erwogen ihre Abreise. Am Mittag des 23. Mai trug Bucer dann seine Position vor: Er habe bisher nicht alles recht verstanden und gelehrt. Die übrigen oberdeutschen Theologen erklärten, mit Bucer übereinzustimmen. Luther konnte sich also sehr weitgehend durchsetzen. Die Atmosphäre entspannte sich, die Gäste hatten Gelegenheit, am Himmelfahrtstag die ihnen unvertraute Deutsche Messe kennenzulernen und wurden von Luther und Lukas Cranach zu Festmählern eingeladen.[162]

Schmalkaldener Bundestag (1537)

Am 2. Juni 1536 schrieb Papst Paul III. ein Konzil nach Mantua aus. Im Zuge der Sondierungen kam es am 7. November 1535 im Schloss Wittenberg zu einer Begegnung zwischen dem Nuntius Pietro Paolo Vergerio und Luther, der sich bereit erklärte, auf einem Konzil zu erscheinen. Da sein Gesundheitszustand als Politikum galt, traf Luther Vorbereitungen, um auf den Nuntius möglichst agil zu wirken, was ihm auch gelang. Tatsächlich war er zum Jahresende 1536 so kränklich, dass der Kurfürst ihn bat, ein theologisches Testament (Glaubensartikel mit biblischer Begründung) zu verfassen. Luther schrieb einen Bekenntnistext, der eher der Abgrenzung von der altgläubigen Position diente. Im Mittelpunkt steht die Rechtfertigungslehre; sie sei „der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt.“ In der Frage des Messopfers war man, so Luther, „ewiglich geschieden“, denn dies sei eine Konkurrenz zum Sühnetod Christi. Der Papst könne nicht kraft göttlichen Rechts das Haupt der Christenheit sein, und es sei auch nicht ratsam, ihn als Oberhaupt kraft irdischer Ordnung zu akzeptieren. So weit war die Arbeit gediehen, als Luther am 18. und 19. Dezember einen oder mehrere Herzanfälle erlitt. Daraufhin diktierte er den zweiten Teil des Dokuments in kurzgefasster Form.[163]

Bei einer Zusammenkunft Luthers mit den anderen Wittenberger Theologen sowie Agricola, Spalatin und Amsdorff wurde ein weiterer Artikel (gegen die Anrufung der Heiligen) hinzugefügt. Änderungswünsche Melanchthons berücksichtigte Luther nicht. Die Mitglieder des Treffens unterschrieben mit persönlichen Bemerkungen; am 3. Januar 1537 übersandte Luther dem Kurfürsten das Dokument und stellte ihm frei, welchen Gebrauch er davon machen wollte. Johann Friedrich I. plante, die Artikel als kursächsische Bekenntnisschrift auf dem Konvent in Schmalkalden einzubringen. Dieser sollte ursprünglich am 7. Februar 1537 beginnen, verzögerte sich aber wegen der zahlreich eintreffenden Delegationen. Außer den Wittenberger Theologen waren beispielsweise Urbanus Rhegius (Lüneburg), Erhard Schnepf und Ambrosius Blarer (Württemberg), Johann Lang (Erfurt), Johannes Aepinus (Hamburg), Andreas Osiander (Nürnberg) sowie Brenz aus Schwäbisch Hall und Bucer aus Straßburg angereist.[164]

Luther trat weiterhin dafür ein, dass die Protestanten das Konzil in Mantua beschicken sollten, doch die Schmalkaldischen Bundesstände lehnten dies ab, weil es nicht das geforderte freie christliche Konzil sei. Luthers Schmalkaldische Artikel bargen so viel Konfliktpotential, dass sie nicht zur Grundlage der theologischen Beratungen genutzt wurden; dies waren vielmehr die Augsburger Konfession und die Wittenberger Konkordie. Melanchthon verfasste eine Ergänzung über den Primat des Papstes und die Jurisdiktion der Bischöfe, die dem Augsburger Bekenntnis angefügt wurde. Luther selbst nahm nur sporadisch am Bundestag teil, denn das Harnsteinleiden trat wieder auf und verursachte ihm starke Schmerzen. Durch eine Fehlbehandlung des landgräflichen Leibarztes wurde Luther so hinfällig, dass man mit seinem Tod rechnete. Luther wollte in Kursachsen sterben, so dass ein Reisewagen für ihn hergerichtet wurde. Der in Schmalkalden anwesende päpstliche Legat argwöhnte, Luthers Leichnam solle fortgebracht werden. Tatsächlich rettete dieser Krankentransport Luther das Leben, denn durch die Erschütterungen löste sich die Harnverhaltung. Am 14. März war er wieder in Wittenberg, wo er sich langsam erholte.[165]

Luthers Tod

Trotz eines schon länger währenden Herzleidens reiste der 62-jährige Luther im Januar 1546 nach Eisleben, um dort die Erb- und Rechtsstreitigkeiten innerhalb der Mansfeldischen Grafenfamilie beilegen zu helfen. Luther war von der winterlichen Reise geschwächt und nahm bis zum 16. Februar an den Gesprächsrunden jeweils nur gut eine Stunde teil. Ein Zettel vom 16. Februar, den Johannes Aurifaber abschrieb, ist Luthers letzte schriftliche Äußerung: „Den Vergil in seinen Bucolica und Georgica kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Hirte oder Bauer gewesen. Cicero in seinen Briefen, so fasse ich es auf, versteht niemand, der nicht zwanzig Jahre in einem bedeutenden Staatswesen tätig war. Die Heilige Schrift glaube niemand genug verschmeckt zu haben, wenn er nicht hundert Jahre mit den Propheten die Gemeinden geleitet hat.“ Möglicherweise nannte Luther neben den Propheten auch Johannes den Täufer, Christus und die Apostel, vielleicht beziehen sich diese Erwähnungen aber auf den Folgesatz, ein ursprünglich auf Vergil bezogenes Zitat des Statius: „Versuch dich nicht an dieser göttlichen Aeneis, sondern bete ihre Spuren demütig an!“ In Luthers Schlusssatz sind die ersten drei Worte deutsch: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“[166]

In der Nacht zum 18. Februar 1546 erwachte Luther durch einen Schmerzanfall. Er erwartete nun seinen Tod, erhielt letzte medizinische Hilfen, und eine Reihe von Personen kamen in seiner Stube zusammen: der Hauswirt, der Stadtschreiber und seine Frau, die beiden Stadtärzte, sowie Graf Albrecht mit Gattin. Justus Jonas der Ältere und Michael Caelius fragten ihn, ob er bis zum Tode seine Lehre bekenne. Er antwortete mit Ja. Daraufhin reagierte er nicht mehr und starb morgens um 3 Uhr.[167] Beigesetzt wurde Luther am 22. Februar in der Schlosskirche zu Wittenberg unterhalb der Kanzel.



Text: Wikipedia

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