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Eichwalde unterm Hakenkreuz

13.402 Bytes hinzugefügt, 19:04, 8. Feb. 2014
Der Pogrom
== Der Pogrom ==
 
Am 7. November 1938 schoß in der Deutschen Botschaft in Paris der jüdische Jugendliche Herschel Grünspan auf den deutschen Legationssekretär vom Rath, der am Nachmittag des 9. November 1938 seinen Verletzungen erlag. Dieses Attentat, das auch im Ausland verurteilt wurde, nahm das Nazi-Regime zum Anlaß, ihr Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland rigoros zu verschärfen. Die von Goebbels gelenkte NS-Presse gab dazu am 8. November eine erste Orientierung. So las man in der "Königs Wusterhausener Zeitung", daß diese Schüsse "sehr ernste Folgen haben müssen, und zwar für die d e u t s c h e n Juden als auch für die a u s l ä n d i s c h e n Juden. (i. O. gesp.) Das Dritte Reich wird ... daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen."
Diese Sätze wurden von der Eichwalder Nazi-Ortsgruppenleitung wahrscheinlich mit besonderem Interesse registriert. Der 9. November war der alljährliche Gedenktag an den gescheiterten Hitlerputsch des Jahres 1923, dessen zentrale Zeremonien in München und zeitgleich in allen anderen Orten Deutschlands begangen wurden. Die Eichwalder Veranstaltung zur sogenannten "Ehrung der Gefallenen der Bewegung" war für den 9. November abends um 20.00 Uhr im "Filmeck Eichwalde" angesetzt worden. Morgens hatte bereits eine Abordnung der NSDAP, wie am 10. November in der Tagespresse zu lesen war, Kränze am Grabmal Dreyers, "der von einem Judas verraten" worden sein sollte, niedergelegt. Die Anwesenheit des Landrates des Kreises Teltow, Dr. Ihnen, sowie des Brigadeführers der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg bot dabei vermutlich dem Bürgermeister und Ortsgruppenleiter Rix Gelegenheit, sich über mögliche Schlußfolgerungen nach dem Attentat zu verständigen. Denn Rix verfuhr bei allem, was er tat, immer nach der Devise:' Eichwalde voran!' Das war in Hinblick auf die äußere Ortsgestaltung nützlich, aber so handelte er auch in allen politisch relevanten Angelegenheiten. Er hatte sich als Ortsgruppenleiter häufig mit antisemitischen Worten hervorgetan, und selbst die 'Juni-Aktion' seiner Polizisten gegen die Pension Boas war zeitlich und hinsichtlich des "Rahmenprogramms" von besonderem Einfallsreichtum gekennzeichnet.
In München wurde die Nachricht vom Ableben des Gesandschaftsrates an Hitler erst am 9. November gegen 21.00 Uhr übermittelt. Nach einer antisemitischen Hetzrede von Goebbels erteilten die versammelten NSDAP-Gauleiter ihren örtlichen Stäben frühestens ab 22.30 Uhr Anweisungen und Befehle über erwünschte Pogrome gegen Juden in der Nacht vom 9. zum 10. November sowie in den Morgenstunden des anbrechenden Tages. Unterdessen hatten aber die Ereignisse in Eichwalde bereits begonnen. Hier wartete die NSDAP-Ortsgruppe nicht erst auf Anweisungen, sondern handelte im Geiste der aktuellen judenfeindlichen Agitation aus Presse und Rundfunk eigenständig.
In der Mariannenstraße 1 - 2 wohnte die Familie des Kaufmanns Max Hirsch, der als Eigentümer zusammen mit seiner Frau Frieda und dem Sohn Ernst eine Wohnung im Erdgeschoß bewohnte. Weitere Räume des Hauses waren vermietet. Ebenfalls im Erdgeschoß wohnte der Graveur Hans Hanak mit seiner Frau und seinem Sohn Lothar, im Obergeschoß der Arbeiter Otto Zimmermann. Hanak war bis 1933 in der SPD, Zimmermann in der KPD. Max Hirsch soll vor 1938 auf seinem Doppelgrundstück eine größere Hühnerhaltung betrieben und Eier verkauft haben. Wahrscheinlich hatte er nach 1933 wie viele andere jüdische Bürger seine bislang ausgeübte kaufmännische Existenz verloren. Im Hause der Familie Hirsch lebten alle Bewohner sehr harmonisch ohne jegliche rassistische Vorbehalte beieinander, wie Herr Lothar Hanak berichtete. Er erzählte:
"Es war am 9. November fast auf die Minute 22.00 Uhr, als ich, damals sieben Jahre alt, vom Klirren zerberstender Fenster meines Zimmers, in dem mein Bett stand, aus dem Schlaf gerissen wurde. Große Steine waren in die Scheiben geworfen worden und polternd über die Dielen des Zimmers gerollt. Durch die zerschlagenen Scheiben schütteten die Täter dann noch mehrere Eimer Wasser. Sie hatten es auf die Familie Hirsch abgesehen, wie wir an ihren Schimpfworten hören konnten. Hirschs wohnten aber an der anderen Seite des Hauses. In den betroffenen Räumen lebten meine Mutter und ich, denn mein Vater war damals bereits zur Wehrmacht einberufen worden. In das Haus selbst drangen die Täter nicht ein, da sie unerkannt bleiben wollten. Die bei uns angerichteten Schäden waren beträchtlich. Am nächsten Morgen ging meine Mutter, eine sehr couragierte Frau, zur Gemeindeverwaltung und erstattete Anzeige. Hier erhielt sie als erstes die Antwort: 'Bei Juden wohnt man ja als Deutscher auch nicht!' Schließlich wurden die Zerstörungen irgendwie entschädigt."
Ausdrücklich bestätigte Herr Hanak den zeitlichen Beginn der Ausschreitungen, hatte er doch in den folgenden Jahren durch Gespräche mit der Familie Hirsch und mit seiner Mutter noch manche Gelegenheit, sich an die Vorfälle genau zu erinnern. Einige Zeit später drang die Horde der Eichwalder SA-Leute in der Sedanstraße 15/16 (Grenzstr.) auf das Grundstück der Geschwister Boas vor. Frau Ruth Weis, geborene Freudenberg, deren Familie zu dieser Zeit in der Sedanstraße 15 wohnte, berichtete:
"Es muss nachts so gegen zwei Uhr gewesen sein, als mein zweijähriger Bruder und ich von einem gewaltigen Knall wach wurden. Eine Horde Männer hatte, um auf das Grundstück der Geschwister Boas zu gelangen, den sehr massiven Zaun gesprengt. Mein Vater, Hans Freudenberg, war nicht zu Hause, weil er immer meine Mutter vom letzten Zug abholte. Sie arbeitete in einem Rüstungsbetrieb, ich glaube, in Adlershof, und schweißte dort Kanister u. dgl. Die Geschwister Boas hatten sich auf dem Dachboden versteckt, als die SA-Meute in ihr Haus eindrang und dort alles verwüstete. Ich sehe die zerschnittenen Gemälde und den großen umgestürzten, vorher mit Silbergeschirr und -besteck gefüllten Schrank noch vor mir. Ein Freund meines älteren Bruders Günther, der Sohn der Familie Lange, die in der Sedanstraße 27 schräg gegenüber wohnte, war bei dem Lärm zu uns ins Gartenhaus gekommen, aber uns hatte man nicht angegriffen...Am Hindenburgplatz (Platz der Republik, heute das Grundstück Stubenrauchstr.32, d.A.) wohnte die Familie des jüdischen Kaufmanns Julius Schlesinger, die ebenfalls angegriffen wurde. Frau Schlesinger soll mächtig getobt und geschrien haben..."
Am nächsten Tag las man in der Zeitung: " Wie in allen Teilen des Reiches haben sich auch in Berlin scharfe judenfeindliche Kundgebungen ereignet ... Da die Volksgenossen äußerste Disziplin bewahrten, ist keinem Juden auch nur ein Haar gekrümmt worden. Ähnliche Vorfälle spielten sich auch in den Berliner Vororten und in märkischen Ortschaften ab ..."
Als angeblichen Ausdruck des "Volkszorns “ hatten Goebbels und seine Gefolgsleute per Telefon aus München deutschlandweit einen Judenpogrom organisiert. In Deutschland wurden 91 Menschen ermordet, rund 20 000 verhaftet, 281 jüdische Gotteshäuser zerstört, rund 7500 Geschäfte demoliert und ausgeraubt. Wegen dieser Zerstörungen erhielt der Pogrom im Volksmund die Bezeichnung "Kristallnacht".
 
Mehrere Eichwalder erinnerten sich noch im Jahre 2003 daran, wie sie am 10. November 1938 morgens nach Berlin zur Arbeit oder zur Ausbildung gefahren waren und die Geschäftsstraßen am Görlitzer Bahnhof oder am Rosenthaler Platz mit Scherben übersät erblickten. In Eichwalde nahmen die weiteren Ereignisse am Morgen ihren Verlauf. Frau Weis berichtet:
" Am nächsten Tag, am 10. November (real 22.11.38), mussten alle Juden sich auf der Straße sammeln und wurden verhaftet, also die Geschwister Boas und auch mein Vater. Man brachte ihn in das KZ Sachsenhausen."
 
Etwa 30 000 Juden in Deutschland wurden ebenso wie Hans Freudenberg und die Geschwister Boas festgenommen. Allein in das Konzentrationslager Sachsenhause kamen nach dem Pogrom fast 6000 Juden. Hier mußten sie entsetzliche Qualen ertragen, starben durch Erschöpfung oder Selbstmord. Die jüdischen Häftlinge, die Besitzer von Betrieben oder Immobilien waren, sollten sogenannte 'Arisierungsverträge' unterschreiben. Verbunden mit der Bereitschaftserklärung zur Auswanderung, wurde ihnen von der SS die Freilassung versprochen. Bis Anfang 1939 wurden die meisten nach dem Pogrom verhafteten Juden entlassen. Hans Freudenberg, Häftlingsnummer 013687, wurde am 18. Dezember 1938 aus dem KZ Sachenhausen entlassen. Frau Weis berichtet über die Rückkehr ihres Vaters:
"Als er nach einigen Wochen wieder kam, sagte er, daß er von dort nicht wieder lebend zurück käme, falls man ihn nochmals abholen würde ... Ich glaube, daß die Geschwister Boas danach nicht wieder in ihrem Haus gewohnt haben. Nach seiner Rückkehr von Sachsenhausen arbeitete mein Vater überall, wo er Arbeit bekam, so auf dem Holzplatz in Zernsdorf oder bei Stellen, die ihm Freunde vermittelt hatten."
Es sind keine Proteste oder Beistandsleistungen von Eichwalder Bürgern gegen diesen Pogrom in Erinnerung geblieben. Bekannt ist, daß den Juden Deutschlands für die Pogromschäden insgesamt eine 'Sühneleistung' von mehr als einer Milliarde Reichsmark auferlegt wurde. Die von Versicherungen an Juden zu zahlenden Entschädigungen wurden beschlagnahmt, um sicher zu stellen, daß sie auch wirklich die Geschädigten blieben.
 
Schon nach der Polizeiaktion im Juni 1938 gegen die Pension der Geschwister Boas war die Jagd auf ihr Eigentum eröffnet worden. Es ist nicht bekannt, wohin sie nach der Verhaftung gebracht wurden, ob auch sie eine 'Arisierungserklärung' unterschreiben mußten. Durch Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 wurden jüdische Bürger zur Verschleuderung ihres Unternehmens, ihres Haus- und Grundbesitzes gezwungen. Alles mußte in "nicht-jüdische Hand" übertragen werden. Jüdischer Immobilienbesitz wurde zwangsarisiert, Verkaufserlöse zu einem Bruchteil des eigentlichen Wertes kamen auf ein Sperrkonto und wurden bald zugunsten des Reiches konfisziert. Dazu trugen weitere gesetzliche Maßnahmen wie das Gewerbeverbot für Juden ab 1. Januar 1939 bei.
 
Im Zusammenhang mit der Klärung vermögensrechtlicher Ansprüche nach 1990 durch das "Amt zur Regelung offener Vermögensfragen" (ARoV) wurden heutige Eichwalder Bürger mit diesen unheilvollen Ereignissen konfrontiert und erfuhren so mitunter von entsetzlichen Schicksalen. Zum Beispiel wurde dabei ermittelt, daß der frühere jüdische Eigentümer von Parzellen in der Zeuthener Straße, Herr Erich Seligsohn, nach dem Verkauf seiner Immobilien " mit dem 111. Alterstransport vom 13.10. 1944 nach Theresienstadt deportiert und dort 2 Monate später ermordet " wurde. Ein Beispiel aus der Wernerstraße 2 läßt erkennen, wie begehrt der zwangsläufig von Juden aufgegebene Besitz besonders bei NSDAP-Funktionären war. Ein "Reichsangestellter" M. aus Berlin beschwerte sich beim Regierungspräsidenten in Potsdam, daß die Auflassung des ehemals jüdischen Grundstücks vom Landrat noch immer nicht genehmigt worden sei. Am 10. Juli 1941 wurde lt. Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens vom 30. Juni 1941 die Auflassung des Grundstücks bestätigt.
 
Die Geschwister Boas leiteten 1939, der innenpolitischen Entwicklung Rechnung tragend, den Verkauf ihres Hauses in der heutigen Grenzstraße 15/16 ein und bereiteten die Ausreise aus Deutschland vor. Jedoch erlebten sie nun, wie der NS-Staat einerseits die Auswanderung forcierte, andererseits bremste, indem er durch Einziehung oder Sperre des finanziellen Vermögens die Möglichkeiten zur Auswanderung einschränkte. Noch mußten die Geschwister Boas und die Familie Hirsch im Ort, wenn auch unerwünscht, verbleiben. Über ihr weiteres Schicksal wird noch zu berichten sein.
 
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1 Vgl. Hermann Graml : Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich. München, 1991, S.13.<br />
2 KWZ v. 9. November 1938.<br />
3 Vgl. Hermann Graml, a.a.O., S. 16.<br />
4 Bericht Herr Hanak (geb. 1931), Eichwalde, Waldstr., November 2003.<br />
5 Die letzten Züge aus Berlin verließen Eichwalde um 00 Uhr 46 und 01 Uhr 46.<br />
6 Bericht Frau Ruth Weis, geb. Freudenberg, Erkrath, Januar 2004. Privatarchiv.<br />
7 KWZ v. 10. November 1938.<br />
8 Vgl. Hermann Graml, a.a.O.,S.35.<br />
9 Bericht Frau Ruth Weis, geb. Freudenberg, Januar2004, Privatarchiv.<br />
10 Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, Auskunft v. 02.03. 2004, Privatarchiv.<br />
11 Ebenda. Vgl. Hans-Jürgen Döscher : "Reichskristallnacht ". Die Novemberpogrome 1938.
Frankfurt / Main , Berlin 1988,S. 110 ff.<br />
12 Vgl. Irene Diekmann: Boykott- Entrechtung- Pogrom – Deportation. Die 'Arisierung' jüdischen Eigentums während der NS-Diktatur. Untersucht und dargestellt an Beispielen aus der Provinz Brandenburg. In: Brandenburg in der NS-Zeit. Studien und Dokumente. Hrsg. v. Dietrich Eichholtz unter Mitarbeit von Almuth Püschel. Berlin 1993, S. 207ff.<br />
13 Privatarchiv d. A.<br />
14 BLHA, Pr.Br. Rep. ,2A, I 6, Nr. 1319, Wohnsiedlungsgebiete im Krs. Teltow 1940- 1945.<br />
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== Vorkriegssommer ==
657.206
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