Friedrich Hölderlin

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Friedrich Hölderlin, Pastell von Franz Karl Hiemer (1792)

Johann Christian Friedrich Hölderlin (* 20. März 1770 in Lauffen am Neckar, Herzogtum Württemberg; † 7. Juni 1843 in Tübingen, Königreich Württemberg) zählt zu den bedeutendsten deutschen Lyrikern. Sein Werk lässt sich, in seiner Bedeutung innerhalb der deutschen Literatur um 1800, weder der Weimarer Klassik noch der Romantik zuordnen.

Leben

Elternhaus und frühe Kindheit

Friedrich Hölderlin ist der Sohn des Klosterpflegers Heinrich Friedrich Hölderlin (1736–1772) und dessen Ehefrau, der Pfarrerstochter Johanna Christiana, geborene Heyn (1748–1828). Er ist das erstgeborene Kind seiner Eltern. Im Jahr 1771 wurde seine nächstjüngere Schwester geboren, die nach einigen Monaten jedoch verstarb. Im Alter von zwei Jahren verlor Friedrich Hölderlin, im Jahr 1772, seinen Vater. Sechs Wochen nach dessen Tod kam Hölderlins Schwester Maria Eleonora Heinrica zur Welt, die „liebe Rike“, so benannt in Hölderlins Briefen. Hölderlins Mutter[1][2] heiratete 1774 Johann Christoph Gok (1748–1779), Weinhändler und später auch Bürgermeister in Nürtingen.

Schul- und Universitätsjahre

Die Familie zog in den sogenannten „Schweizerhof“, ein stattliches Anwesen an der Neckarsteige, das die Familie bis 1798 bewohnte. Friedrich und seine Schwester Heinrike (* 15. August 1772) bekamen noch einen Bruder, Karl Gok (1776–1849). Als Hölderlin neun Jahre alt war, starb auch der Stiefvater, so dass die erst 31-jährige Mutter zum zweiten Mal Witwe wurde. In dem heute Hölderlinhaus genannten Gebäude verbrachte Hölderlin seine Kindheit und Jugend.[4] Wohnhaus der Familie Gok, ursprünglich der Schweizerhof, heute Hölderlinhaus, Neckarsteige 1 in Nürtingen; hier verbrachte Friedrich Hölderlin seine Kindheit und Jugend, hierher kehrte er bis 1798 immer wieder zurück

Dem Wunsch der Mutter nach dem Pfarrersberuf folgend, besuchte Hölderlin die Lateinschule in Nürtingen und dann, nach der Konfirmation und nach bestandenem Landexamen, die evangelischen Klosterschulen (Gymnasien) in Denkendorf (Württemberg) und Maulbronn. Während des Studiums an der Universität Tübingen, als Stipendiat im Tübinger Stift, wo u. a. Karl Philipp Conz zu seinen Lehrern zählte, schloss er mit den späteren Philosophen Hegel und Schelling Freundschaft. Darüber hinaus wurde Hölderlin in diesen Jahren von seinem Lehrer Nathanael Köstlin geprägt, den er wie einen Vater verehrte.

„Der Mutter Haus“ in der Nürtinger Neckarsteige blieb auch während der Studienjahre Aufenthalt für die Vakanzen und in den darauf folgenden Jahren immer wieder Zufluchtsort für den nach einer Stellung in der Gesellschaft suchenden Hölderlin. Hier schrieb er auch an seinem Hyperion, wobei ihn Bruder Karl unterstützte.

Hauslehrerjahre

Aufgrund der begrenzten Mittel der Familie und seiner Weigerung, eine kirchliche Laufbahn einzuschlagen, war Hölderlin zunächst als Hauslehrer für Kinder wohlhabender Familien tätig. So wurde er 1793/94 Hauslehrer bei Charlotte von Kalb in Waltershausen im Grabfeld. Nach Forschungen unter anderem von Adolf Beck und Ursula Brauer soll er mit Wilhelmine Kirms, einer Angestellten Charlotte von Kalbs, ein Kind gehabt haben. 1794 besuchte er die Universität Jena, um dort Vorlesungen von Johann Gottlieb Fichte zu hören. Er lernte während dieses Aufenthaltes Johann Wolfgang von Goethe und den von ihm besonders verehrten Friedrich Schiller kennen. Auch machte er die Bekanntschaft Friedrich von Hardenbergs (Novalis) und, im Mai 1794, Isaac von Sinclairs, mit dem er ab April 1795 ein Gartenhäuschen in Jena bewohnte. Im Mai 1795 verließ er die Universitätsstadt fluchtartig, weil er glaubte, sein großes Vorbild Schiller enttäuscht zu haben, und sich neben ihm nichtig wie ein kleiner Schüler fühlte. Verwirrt und mit Zeichen der Verwahrlosung tauchte er wieder in Nürtingen auf. Eintrag Hölderlins im Stammbuch des Studenten Johann Camerer, Jena, März 1795

1796 wurde er Hauslehrer der Kinder Jakob Gontards, eines Frankfurter Bankiers. Hier begegnete er dessen Frau Susette, die seine große Liebe wurde. Susette Gontard ist das Modell für die Diotima seines Briefromans Hyperion. Hölderlin-Denkmal im Bad Homburger Kurpark

Als Gontard von der Beziehung seiner Frau zum Erzieher des Sohnes erfuhr, musste Hölderlin seine Tätigkeit im Haus des Bankiers beenden. Er flüchtete nach Homburg zu seinem Studienfreund Isaac von Sinclair. Hölderlin befand sich in einer schwierigen finanziellen Situation (selbst als gelegentlich einige seiner Gedichte mit Hilfe seines Gönners Schiller veröffentlicht wurden) und war auf die materielle Unterstützung seiner Mutter angewiesen. Schon damals wurde bei ihm das Leiden an einer schweren „Hypochondrie“ festgestellt; ein Zustand, der sich nach seinem letzten Treffen mit Susette Gontard 1800 verschlechterte.

Im Januar 1801 begab er sich in die Schweiz nach Hauptwil, um die jüngere Schwester des Kaufmanns Emanuel von Gonzenbach zu unterrichten. Er blieb drei Monate dort, bis ihm gekündigt wurde und er die Heimreise antreten musste.

Anfang 1802 fand er eine Tätigkeit als Hauslehrer der Kinder des Hamburger Konsuls und Weinhändlers Meyer in Bordeaux und reiste zu Fuß dorthin. Nach wenigen Monaten kehrte er aus ungeklärten Gründen zurück nach Württemberg. Gemäß dem Eintrag in seinem Pass überquerte er am 7. Juni 1802 die Rheinbrücke bei Kehl, erreichte Stuttgart aber erst Ende des Monats und in offenbar so verwahrlostem und verwirrtem Zustand, dass Freunde ihn zunächst kaum wiedererkannten. Spätestens hier erreichte ihn auch die Nachricht vom Tod Susettes, die am 22. Juni 1802 in Frankfurt an den Röteln gestorben war. Die Ereignisse in diesem Juni 1802 sind historisch unklar und Gegenstand divergierender Interpretationen (so von Adolf Beck, Pierre Bertaux und D. E. Sattler).

Hölderlin kehrte zur Mutter nach Nürtingen zurück und stürzte sich in Arbeit. Er übersetzte Sophokles und Pindar, nach dessen Vorbild er auch seine eigenen Gesänge (oder Hymnen) konzipierte. Sein Freund, der Hessen-Homburger Regierungschef Sinclair, verschaffte ihm 1804 eine Stelle als Hofbibliothekar; das Gehalt zahlte Sinclair aus eigener Tasche. Für den Homburger Landgrafen Friedrich V. entstand unter anderem der Gesang Patmos, eine Komposition „von überirdischem Maß“ (Fried Lübbecke). Dieser war Teil eines großangelegten Zyklus vaterländischer Gesänge, von dem das berühmte Homburger Folioheft zeugt (darin unter anderem Entwürfe zu: Der Ister, Griechenland, Die Titanen, Kolomb, Mnemosyne). 1805 wurde mit seinen Nachtgesängen auch das berühmte kurze Gedicht Hälfte des Lebens veröffentlicht.

Zwangsbehandlung am Universitätsklinikum Tübingen

Im Februar 1805 wurde Sinclair auf Antrag des Kurfürsten Friedrich II. von Württemberg verhaftet und ein Hochverratsprozess gegen ihn angestrengt, der ergebnislos verlief. Die Ermittlungen gegen den angeblich darin verwickelten „württembergischen Untertanen“ Hölderlin wurden bald eingestellt, nachdem der Homburger Arzt und Hof-Apotheker Müller in einem Gutachten vom 9. April 1805 berichtete, Hölderlin sei zerrüttet und sein Wahnsinn in Raserei übergegangen. Im August 1806 schrieb Sinclair an Hölderlins Mutter, er könne für seinen Freund nicht mehr sorgen. Am 11. September 1806 wurde Hölderlin zuerst unter dem Vorwand, Bücher für die landgräfliche Bibliothek zu kaufen, dann schließlich mit Gewalt von Homburg nach Tübingen in das von Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth geleitete Universitätsklinikum geschafft. Spätestens von diesem Zeitpunkt an galt Hölderlin seinen Zeitgenossen als wahnsinnig.

Im Tübinger Klinikum erfolgte eine 231-tägige, für damalige Verhältnisse als fortschrittlich angesehene Zwangsbehandlung, offenbar in Folge der Autenriethschen Diagnose einer „Manie als Nachkrankheit der Krätze“.[5] Über die genauere Behandlung, mit deren Durchführung Autenrieth den Medizinstudenten Justinus Kerner beauftragte, ist wenig bekannt. Sicher ist jedoch, dass Hölderlin mindestens einmal, vermutlich aber wiederholt vierwöchige Zyklen medikamentöser Behandlungen über sich ergehen lassen musste. Diese provozierten neben möglichen Phasen von Sedierung und Beruhigung insbesondere intensive, sicher schmerzhafte und anhaltende (zum Teil blutige) Durchfälle. Aus den ersten Behandlungswochen stammt auch die einzige Überlieferung, welche Einblick in die Behandlungssituation gewährt: „Uhland studiert izt Schelling u. Kerner hilft den gefallenen Titanen Hölderlin im Klinikum laxiren und macht ihm einen bösen Kopf. Dadurch will Autenrieth die Poesie u. die Narrheit zugleich hinausjagen.“ (Brief von Gustav Schoder aus der Krankenstube des Tübinger Klinikums, wohl vom 30. September oder vom 3. Oktober 1806 an seinen Freund Immanuel Hoch)[6]

Im historischen Rückblick scheint die Behandlung in vielen Phasen eine geradezu traumatische Qualität gehabt zu haben, so dass sie das weitere psychische Befinden Hölderlins sicher nicht verbessert haben wird.[7] Über die genaue medizinische Bestimmung seiner geistigen „Verrückung“ wurde insbesondere seit 1900 zwischen Literaturwissenschaftlern und Psychiatern äußerst vehement gestritten.[8] Auch wenn diese Frage in historischem Rückblick niemals sicher geklärt werden kann, ist die von Pierre Bertaux vertretene Auffassung, Hölderlin habe seinen Wahnsinn nur simuliert, in ihrer Vereinfachung aus heutiger Sicht falsch.[9] Insbesondere aber besteht heutzutage Einigkeit, dass auch die genaueste Bestimmung einer medizinischen Diagnose die Frage offenlassen müsste, wie seine späteren und spätesten Gedichte einzuschätzen seien, zumal eine eingehendere Beschäftigung mit dem Spätwerk – entgegen den Stimmen, welche die wachsende Ich-Verleugnung als Symptom „schizophrener Ich-Auflösung“ verstehen – Interpretationsansätze erlaubt, die von einem bewussten, sich vom Subjektivismus seiner Zeit distanzierenden „Entichungswillen“ ausgehen, der mitunter Merkmale einer parodistischen Abrechnung mit der herkömmlichen Ich-Lyrik aufscheinen lässt.[10]

Zweite Lebenshälfte im Turmzimmer von 1807 bis 1843

1807 kam Hölderlin, am 3. Mai von Autenrieth als „unheilbar“ und mit der Aussicht auf nur wenige weitere Lebensjahre entlassen, zur Pflege in den Haushalt Ernst Zimmers, eines Tübinger Tischlers und Bewunderers des Hyperion. Hier bewohnte er als Mitglied des Haushalts und mit familiär-fürsorglicher Unterstützung, zuletzt durch Lotte Zimmer, eine Turmstube oberhalb des Neckars (Hölderlinturm). Zudem bestand eine Vormundschaft durch die Mutter, nach deren Tod 1828 durch den Oberamtspfleger Burk. Hölderlin war finanziell sowohl durch ein privates Erbe als auch durch eine Sonderrente vom württembergischen Hofe abgesichert.[11]

Zwar nahm er in den ersten Jahren nach dem Klinikaufenthalt das dichterische Schaffen wieder auf, jedoch zeigten sich häufig starke und länger andauernde Erregungszustände mit einer folgenden Apathie. Ein Hinweis darauf, dass ihm seine Situation bewusst war und wie er sie empfand, ist ein oft zitiertes Gedicht vom Januar 1811:

Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen, Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen, April und Mai und Julius sind ferne Ich bin nichts mehr; ich lebe nicht mehr gerne![12]

Seit April 1812, als er eine schwere körperliche Erkrankung unklarer Diagnose durchmachte, wurden die Erregungszustände seltener und milder. Hölderlin dehnte seine soziale und künstlerische Aktivität aus, spielte beispielsweise viel Klavier. Auch nahm er die Korrespondenz mit der Mutter wieder auf, wenn er auch in seinen Briefen eigentümlich formelhaft blieb. Im Jahr 1813 erlebte er die Geburt von Lotte Zimmer, die ihn den Rest seines Lebens begleitete.

Nachdem sich Hölderlin in den Jahren ab 1816 stärker auf die Hausgemeinschaft zurückgezogen hatte, wurde er, offenbar unter dem Eindruck der Besuche Wilhelm Waiblingers ab 1822 (bis 1826), wieder vermehrt künstlerisch produktiv. Er unternahm mit Waiblinger lange und ausgedehnte Spaziergänge. 1826 erfolgte die Publikation einer ersten Werksammlung durch Gustav Schwab und Ludwig Uhland, jedoch ohne direkte Beteiligung Hölderlins an der Herausgabe des Bandes.

Zwischen 1829 und 1837 wurde Hölderlin als „Tübinger Attraktion“ zunehmend Opfer zahlreicher, von ihm nicht selten als störend empfundener Besuche von Fremden und Reisenden. Insbesondere diesen Fremden gegenüber verhielt sich Hölderlin oftmals sehr befremdlich und in geradezu schauspielerischer Weise „verrückt“. Ansonsten begrenzte er seine Kontakte auf die Hausgemeinschaft, brach den Kontakt mit seiner eigenen Familie ab und widmete sich seiner dichterischen Aktivität, wobei sich seine Gedichte dieser spätesten Jahre durch eine hohe formale Ordnung, eine gewisse Vereinfachung der Themenwahl (etwa „Jahreszeiten“) sowie einen Verlust des dichterischen „Ich“ auszeichnen.[13] Ab 1837 verwendete er dann auch – wie bereits 1789/1799 ("D.", "Hillmar") – Pseudonyme: "Buonarotti", "Scardanelli" (u. a. im dichterischen Schaffen).

Nach dem Tod von Ernst Zimmer 1838 übernahm Lotte Zimmer die Verantwortung für die Pflege. Zwischen 1841 und 1843 kam Christoph Theodor Schwab, der dann 1846 eine erste Hölderlin-Biografie schrieb [14], mehrmals zu Besuch und regte Hölderlin zu neuer poetischer Tätigkeit an: In diesen Jahren entstand der Scardanelli-Liederzyklus. 1843 starb Hölderlin am 7. Juni um Mitternacht bei weitgehender körperlicher Gesundheit.

Wilhelm Waiblinger, einem jungen Dichter und Bewunderer, der Hölderlin in den 1820er Jahren wiederholt besuchte, ist nicht nur eine romantische Stilisierung des wahnsinnigen Hölderlin während dieser Zeit zu verdanken, sondern auch die Überlieferung des apokryphen, vielleicht den Gesängen zuzuordnenden Prosatextes In lieblicher Bläue. Als Wahnsinniger tritt Hölderlin auch in Maler Nolten auf, einem Roman von Eduard Mörike, der den Dichter ebenfalls in Tübingen besucht hatte. Außerdem erscheint Hölderlin als wahnsinniger „Freund Holder“ in Justinus Kerners Reiseschatten. Es wird berichtet, Zimmer habe Aufzeichnungen Hölderlins aus den letzten Jahren in großen Mengen vernichtet.

Die Grabstätte Friedrich Hölderlins ist auf dem Tübinger Stadtfriedhof erhalten. Das Grabmal wurde 1844 auf Veranlassung von Hölderlins Halbbruder Karl Gok gesetzt und trägt als Inschrift eine Gedenkzeile Karl Goks an seinen Bruder, den Dichter Friedrich Hölderlin.

Werk

Als Student war Hölderlin ein Bewunderer der Französischen Revolution von 1789. Über diese war er von Anfang an vor allem durch die Mömpelgarder, die Mitschüler aus dem zu Württemberg gehörenden Montbéliard, informiert, die zur Theologenausbildung im Stift weilten. Die oft kolportierte Anekdote allerdings, er habe in seiner Jugend am Tübinger Seminar mit Hegel, Schelling und anderen Mitgliedern eines „republikanischen Vereins“ einen „Baum der Freiheit“ errichtet, ist eine hartnäckige Legende, die 1965 von Dieter Henrich widerlegt wurde. Jedoch hatte Hölderlin schon früh Napoleon zum Gegenstand seiner Gedichte gemacht, dessen antirepublikanische Politik ihn allerdings später enttäuschte.

Hölderlin begann als Nachfolger Schillers und des schwäbischen Klassizismus. Seine frühen Gedichte sind meist gereimte Hymnen an abstrakte Gegenstände (An die Schönheit). Später ging er zu den antiken Formen der Ode und der Elegie über. Besonders die Oden sind durch die vollkommene Beherrschung der schwierigen metrischen Form geprägt. Die großen Gedichte seiner reifen Phase sind meist ausgedehnt und sind teils Elegien (Brod und Wein), teils Hymnen in freien Rhythmen wie Patmos und Andenken. Vereinzelt finden sich daneben auch andere Formen wie der Hexameter-Hymnos Der Archipelagus. Daneben pflegte er auch kürzere Formen in Epigrammen und in kurzen Gedichten (berühmt ist Hälfte des Lebens). Aus den Jahren im Tübinger Turm sind viele gereimte Gedichte überliefert, die lange Zeit nicht als echter Bestandteil seines Werkes betrachtet worden sind, sondern im Schatten der Wahrnehmung Hölderlins als kranker Dichter verschwanden. Die neuere Forschung tendiert jedoch dazu, diese Gedichte als lyrische Äußerungen ernst zu nehmen. Als Basis hierfür dienen auffällige Korrespondenzen zwischen den Gedichten, die sowohl inhaltliche und thematische als auch metrische und strukturelle Merkmale gemein haben. Dem folgend können diese Werke durchaus als Schlussstein von Hölderlins poetischem Gedankengebäude gelesen werden.[15]

Hölderlins Verständnis der altgriechischen Kultur, wie es sich in seinen Briefen an Casimir Ulrich Boehlendorff und in seinen Anmerkungen zu den späten Übersetzungen des Sophokles äußert, unterscheidet sich von dem idealistischen Griechenlandbild vieler seiner Zeitgenossen. Wie Heinrich von Kleist hat Hölderlin Züge der griechischen Kultur, die dem Geschmack der Zeit um 1800 nicht entsprachen, nicht klassizistisch geglättet. Bereits in seinem frühen Briefroman Hyperion stellte Hölderlin seine Vorstellung vom tragischen Schicksal dar, die sich aus seiner Wahrnehmung der griechischen Kultur gebildet hatte.

Die Mühen der Herausgeber

Zu Hölderlins Lebzeiten wurde nur ein Teil seines lyrischen Werkes veröffentlicht, und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden einige bis dahin unbekannte Texte aus der Zeit nach 1800 herausgegeben; zuvor waren vom Spätwerk fast nur die sogenannten Nachtgesänge bekannt.

Die ersten Bemühungen um die Edition des handschriftlichen Nachlasses unternahm Wilhelm Böhm. Seine Ausgabe wurde abgelöst von den beiden historisch-kritischen Ausgaben von Franz Zinkernagel und Norbert von Hellingrath. Die besonderen Schwierigkeiten, die Hölderlins Handschriften bereiten, führten dazu, dass Friedrich Beißner bereits 1943 einen dritten Versuch einer wissenschaftlichen Ausgabe des Gesamtwerkes unternahm (Stuttgarter Ausgabe). Die zunächst als endgültig angesehene Textgestalt, die Beißner herstellte, wurde in den 1970er Jahren Gegenstand schärfster Kritik von Seiten D. E. Sattlers, der 1975 eine vierte Gesamtausgabe begann (Frankfurter Ausgabe). Deren Herzstück, die Bände 7 und 8 mit den Gesängen, wurde teils begrüßt[16][17] und andererseits von Hölderlinforschern und Editionsphilologen anderer Ausgaben abgelehnt. Norbert von Hellingrath, Herausgeber einer Hölderlin-Werkausgabe, deren Band I im Jahr 1913 ediert wurde

Der Streit um den Hölderlintext entzweite die Forschung jahrelang und ist bis heute nicht zu einem Ende gekommen. Wegen der unterschiedlichen Entscheidungen, welche die Herausgeber getroffen haben, existiert heute für zahlreiche Werke kein einheitlicher Text. Dies gilt vor allem für die Hymnen und Entwürfe aus dem Homburger Folioheft sowie für die Entwürfe zu dem Drama Der Tod des Empedokles und für viele weitere Gedichte. Von der Stuttgarter Ausgabe leitet sich die kommentierte Leseausgabe von Jochen Schmidt her, von der Frankfurter Ausgabe die Edition von Michael Knaupp. Da auch Schmidt und Knaupp eigenständige Entscheidungen bei der Textherstellung getroffen haben, konkurrieren derzeit also vier Ausgaben mit zum Teil erheblich voneinander abweichenden Texten, so dass selbst der am bloßen Wortlaut interessierte Leser gezwungen ist, auf die in der Frankfurter Ausgabe wiedergegebenen Reproduktionen der Handschriften zurückzugehen.

Wirkung

Rezeption

Hölderlins Poesie, die heute unbestritten als ein Höhepunkt der deutschen und abendländischen Literatur gilt, war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Ausgabe der 1826 erschienenen Gedichte immerhin unter Schriftstellern nicht unbekannt. Nach 1848 wurde sie weitgehend ignoriert; Hölderlin galt als junger romantischer Melancholiker und bloßer Nachahmer Schillers. Friedrich Nietzsche aber schätzte ihn hoch; Motive seiner Kritik an einem vereinseitigt apollinischen Bild der griechischen Kultur gehen auf Hölderlin zurück.[18] Die große Nachwirkung im 20. Jahrhundert setzte mit Stefan George ein; die wissenschaftliche Erschließung begann im Jahr 1910 mit der Dissertation von Norbert von Hellingrath, in welcher der Stil des Hölderlinschen Spätwerks und die Eigenart seiner Übersetzungen aus Pindar erstmals in adäquater Weise beschrieben wurden.

Obwohl Hölderlins hymnischer Stil in der deutschen Literatur einmalig geblieben ist, hat seine prägnante und häufig fragmentarische Lyrik tiefgehenden Einfluss auf die Poesie z. B. von George, Heym, Trakl, Celan, Bachmann und auf viele weitere – von jüngeren Autoren etwa Gerhard Falkner – ausgeübt.

Seine patriotischen Gedichte (etwa die Ode Der Tod fürs Vaterland) waren während der Zeit des Nationalsozialismus und der beiden Weltkriege besonders populär. Ihr freiheitlich-republikanischer Hintergrund wurde in dieser Zeit verschwiegen.

Hölderlins Übersetzungen der Dramen König Ödipus und Antigone von Sophokles fanden nach deren Erscheinen nur geringe, aber zum Teil begeisterte Aufnahme, so vor allem in Bettina von Arnims Buch Die Günderode,[19] einem Werk über Karoline von Günderrode. Von der Seite der Philologen (vor allem von Heinrich Voß, dem Sohn von Johann Heinrich Voß) und auch von Schiller sind dagegen scharf ablehnende Äußerungen überliefert. Erst im 20. Jahrhundert wurde ihre Bedeutung als Modell einer poetischen Übersetzung erkannt (beispielsweise beruht Bertolt Brechts Bearbeitung der Antigone des Sophokles auf Hölderlins Übertragung), welche die Fremdheit des griechischen Textes sichtbar macht, anstatt sie zu eliminieren.

Hölderlins philosophische Bedeutung beruht auf seiner Kritik der Fichteschen Wissenschaftslehre und auf seinem Gegenentwurf, den er in dem zweiseitigen Entwurf Urteil und Seyn niederlegte, der erst im Jahr 1961 veröffentlicht worden ist. Auch die übrigen philosophischen und poetologischen Ausarbeitungen sind fragmentarisch und außerordentlich schwierig. Insbesondere Dieter Henrich hat in umfangreichen Studien Hölderlins philosophischen Ansatz herausgearbeitet und die Diskussionszusammenhänge beschrieben, in denen er sich ausbilden konnte. Hölderlins dominierende Rolle in der philosophischen Gemeinschaft mit Sinclair und Hegel in Frankfurt und Bad Homburg hat zur Ausbildung der Grundgedanken beigetragen, die Hegel schließlich zu seiner Philosophie des Geistes führten. Der gedankliche Gehalt des hymnischen Spätwerks wurde immer wieder zum Anlass philosophischer Auslegungen, so bei Martin Heidegger und – ablehnend gegenüber Heideggers Deutungen – Theodor W. Adorno.

Auseinandersetzung mit Hölderlins Krankheit

Ausgehend von spärlichen Überlieferungen und geprägt durch die literarisch verarbeiteten Erfahrungen von Zeitzeugen, blieb Hölderlins Wahnsinn bis 1900 eine Randnotiz im psychiatrischen Diskurs.[20] Das Interesse an einer möglichst eindeutigen Diagnose ging dabei zunächst nicht von den Psychiatern, sondern vielmehr von Literaturwissenschaftlern aus.

Der Germanist Franz Zinkernagel stellte dem Psychiater Robert Eugen Gaupp, der von 1906 bis 1936 der Universitätsnervenklinik Tübingen vorstand, die Frage, wann genau die Erkrankung begonnen habe, weil er die als „krank“ und damit „sinnlos“ zu wertenden Gedichte von einer Gesamtausgabe ausschließen wollte. Gaupp wiederum beauftragte seinen Assistenten Wilhelm Lange-Eichbaum, der bei Emil Kraepelin zur Dementia praecox (später: Schizophrenie) promoviert hatte.[21] Dieser fand zwar nicht die bis heute verschollene Krankengeschichte, die Justinus Kerner im Auftrag Autenrieths geführt haben muss, aber immerhin das Rezeptbüchlein – die bis heute einzige direkte Quelle zu Hölderlins Behandlung im Tübinger Klinikum. In seiner 1909 erschienenen Arbeit Hölderlin vertrat er vor dem Hintergrund eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses psychiatrischer Krankheitskategorien im Stile Kraepelins die These, dass Hölderlin ab Mai 1801 an einer schizophrenen Erkrankung gelitten habe.[22] Lange und Zinkernagel waren sich darin einig, dass die literarischen Arbeiten Hölderlins ab dem Zeitpunkt seiner schizophrenen Erkrankung als „sinnfrei“ einzuordnen seien – eine aus heutiger Sicht unzulässige Aussage.

Der Sinnhaftigkeit eines solchen Unternehmens widersprach bereits 1915 Norbert von Hellingrath, Herausgeber der ersten historisch-kritischen Ausgabe von Hölderlins Werken. Denn, so sein Argument, die geistigen Produkte eines „Geistesgestörten“ könnten (auch für Geistesgesunde) durchaus sinnausweisend sein.[23] Ähnlich äußerte sich auch Karl Jaspers mit seinem berühmt gewordenen Ausspruch: „Es ist unfruchtbar, auf Hölderlin’sche Dichtungen grobe psychopathologische Kategorien anzuwenden.“[24] Jedoch blieb Jaspers, wie die meisten Psychiater bis in die 1980er Jahre hinein, bei der Bewertung Hölderlins doppeldeutig.[25]

Gaupp selbst gehörte bereits 1910 dem Vorstand der Gesellschaft für Rassenhygiene an und war in der Weimarer Republik ein entschiedener Befürworter der rassenhygienischen Zwangssterilisierung; er gilt als einer der Wegbereiter der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“. 1931 hielt er an der Tübinger Nervenklinik einen Vortrag „Der Kampf gegen die Entartung unseres Volkes vom Standpunkt des Arztes“. An derselben Klinik entstand 1935 – also noch unter Gaupps Leitung – die Dissertation Die seelische Erkrankung Friedrich Hölderlins in ihren Beziehungen zu seinem dichterischen Schaffen. Der Verfasser Rudolf Treichler lobt darin Langes Arbeit als „grundlegende Hölderlin-Pathographie“, nimmt aber eine im Vergleich zu Lange und auch im Vergleich zu Gaupps Fanatismus fortgeschrittene Position ein: Er lehnt ausdrücklich eine Psychiatrisierung des künstlerischen Schaffens ab, also die Annahme, „daß, weil künstlerische Produkte von einem kranken Menschen stammen, diese deshalb niedriger oder auch höher eingeschätzt werden dürfen“. Von Jaspers übernimmt er den Vergleich mit der kranken Muschel, die eine Perle erzeugt, und nennt dies ein „schönes Bild“.[26]

Brisanz gewann die Kontroverse mit der 1978 erschienenen Biographie von Pierre Bertaux. In ihr vertritt er die These, dass der Wahnsinn Hölderlins Ausdruck der ihm drohenden politischen Verfolgung gewesen sei, welche Hölderlin zum Spielen der Verrücktheit gewissermaßen gezwungen habe.[27] Die Biographie von Bertaux wurde auch vor dem Hintergrund populär, dass in den westlichen Gesellschaften eine intensive kritische Auseinandersetzung mit der Institution „Psychiatrie“ stattfand. Sie transportierte Ansichten der Anti-Psychiatrie (obwohl Bertaux diese nicht explizit vertrat) und brachte damit Hölderlin in die kulturellen Debatten.

Auch wenn Hölderlin sich sicherlich – wie andere Menschen, die an einer schizophrenen Störung erkrankt sind – unliebsame Menschen durch ein Übertreiben der eigenen Verrücktheit vom Leib gehalten hat, geht die Leugnung einer schweren psychischen Erkrankung Hölderlins zu weit. Dies zeigt sich beispielhaft in den Nürtinger Pflegschaftsakten, die eindrucksvolle Briefe von Erich und Lotte Zimmer enthalten. Sie wurden erst in den 1990er Jahren entdeckt.[28]

Freilich ist festzuhalten, dass rückblickende Bewertungen anhand von historisch geprägten Begriffen wie den jeweiligen psychiatrischen Klassifikationen grundsätzlich unsicher sind. Aus heutiger psychiatrischer Sicht ist es überdies gar nicht nötig, eine psychische Störung wie beispielsweise eine Schizophrenie auszuschließen, um die späten Werke Hölderlins für sinnvolle und ästhetisch anspruchsvolle Kunstwerke halten zu können.[29] Aktuelle literaturwissenschaftliche Untersuchungen belegen nachdrücklich die hohe Qualität, Sinnträchtigkeit und Eigenständigkeit der späten Gedichte Hölderlins.[30]

Ehrungen

Preise

Nach Hölderlin sind mehrere Literaturpreise benannt:

Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg vor der Höhe

Friedrich-Hölderlin-Preis der Universität und der Stadt Tübingen[32]

Außerdem:

Hölderlin-Ring des Vereins Hölderlin-Nürtingen, der Verdienste um Werk und Person Hölderlins sowie die Erinnerung an ihn würdigt[33]

Namensgebungen

Hölderlinstraße in Berlin und andern Städten

Hölderlinplatz (Stadtteil 182) in Stuttgart-West

Hölderlin-Schule


Text: Wikipedia

Liste der Autoren

Bild: Wikimedia/Franz Karl Hiemer

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