Sokrates

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Sokrates (altgriechisch Σωκράτης Sōkrátēs; * 469 v. Chr. in Alopeke, Athen; † 399 v. Chr. in Athen) war ein für das abendländische Denken grundlegender griechischer Philosoph, der in Athen zur Zeit der Attischen Demokratie lebte und wirkte. Zur Erlangung von Menschenkenntnis, ethischen Grundsätzen und Weltverstehen entwickelte er die philosophische Methode eines strukturierten Dialogs, die er Maieutik („Hebammenkunst“) nannte.

Sokrates selbst hinterließ keine schriftlichen Werke. Die Überlieferung seines Lebens und Denkens beruht auf Schriften anderer, hauptsächlich seiner Schüler Platon und Xenophon. Sie verfassten sokratische Dialoge und betonten darin unterschiedliche Züge seiner Lehre. Jede Darstellung des historischen Sokrates und seiner Philosophie ist deshalb lückenhaft und mit Unsicherheiten verbunden.

Sokrates’ herausragende Bedeutung zeigt sich vor allem in seiner nachhaltigen Wirkung innerhalb der Philosophiegeschichte, aber auch darin, dass die griechischen Denker vor ihm heute als Vorsokratiker bezeichnet werden. Zu seinem Nachruhm trug wesentlich bei, dass er zwar die Begründung des gegen ihn verhängten Todesurteils nicht akzeptierte (angeblich verderblicher Einfluss auf die Jugend sowie Missachtung der Götter), jedoch aus Respekt vor den Gesetzen darauf verzichtete, sich der Vollstreckung durch Flucht zu entziehen. Bis zur Hinrichtung durch den Schierlingsbecher beschäftigten ihn und die zu Besuch im Gefängnis weilenden Freunde und Schüler philosophische Fragen. Die meisten bedeutenden Philosophenschulen der Antike beriefen sich auf Sokrates. Michel de Montaigne nannte ihn im 16. Jahrhundert den „Meister aller Meister“[1] und Karl Jaspers schrieb: „Sokrates vor Augen zu haben ist eine der unerlässlichen Voraussetzungen unseres Philosophierens.

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Mittelpunkt einer geistesgeschichtlichen Wende

Sokrates habe die Philosophie als Erster vom Himmel auf die Erde heruntergerufen, unter den Menschen angesiedelt und zum Prüfinstrument der Lebensweisen, Sitten und Wertvorstellungen gemacht, bemerkte der römische Politiker Cicero,[3] der ein vorzüglicher Kenner der griechischen Philosophie war.[4] In Sokrates sah er die Abkehr von der ionischen Naturphilosophie personifiziert, die bis 430 v. Chr. durch Anaxagoras in Athen prominent vertreten war. Dessen Vernunftprinzip hatte Sokrates zwar beeindruckt, doch vermisste er bei Anaxagoras die Anwendung der Vernunft auf menschliche Problemstellungen.[5] Allerdings war Sokrates, anders als Cicero glaubte, nicht der Erste oder Einzige, der die menschlichen Belange in den Mittelpunkt seines philosophischen Denkens stellte.

Zu Sokrates’ Lebzeiten war Athen als Vormacht im Attischen Seebund und infolge der Ausgestaltung der Attischen Demokratie das politisch-gesellschaftlich tiefgreifendem Wandel und vielfältigen Spannungen ausgesetzte kulturelle Zentrum Griechenlands. Daher gab es dort im 5. Jahrhundert v. Chr. gute Entfaltungschancen für neue geistige Strömungen. Eine solche breit angelegte, durch Lehrangebote auch wirksam hervortretende Geistesrichtung war die der Sophisten, mit denen Sokrates so vieles verband, dass er den Zeitgenossen oft selbst als Sophist galt: Das praktische Leben der Menschen, Fragen der Polis- und Rechtsordnung sowie der Stellung des Einzelnen darin, die Kritik der hergebrachten Mythen, die Auseinandersetzung mit Sprache und Rhetorik, außerdem Bedeutung und Inhalte von Bildung – das alles beschäftigte auch Sokrates.

Was ihn von den Sophisten unterschied und zur geistesgeschichtlichen Gründerfigur machte, waren die darüber hinausgehenden Merkmale seines Philosophierens. Bezeichnend war beispielsweise sein stetiges, bohrendes Bemühen, den Dingen auf den Grund zu gehen und sich bei Fragen wie „Was ist Tapferkeit?“ nicht mit Vordergründig-Augenscheinlichem zufriedenzugeben, sondern den „besten Logos“ zur Sprache zu bringen, das heißt das von Zeit und Örtlichkeit unabhängige, gleichbleibende Wesen der Sache.[6]

Methodisch neu zu seiner Zeit war die Maieutik, das von Sokrates eingeführte Verfahren des philosophischen Dialogs zwecks Erkenntnisgewinn in einem ergebnisoffenen Forschungsprozess. Originär sokratisch war ferner das Fragen und Forschen zur Begründung einer philosophischen Ethik. Zu den von Sokrates erzielten Ergebnissen gehörte, dass richtiges Handeln aus der richtigen Einsicht folgt und dass Gerechtigkeit Grundbedingung für einen guten Zustand der Seele ist. Daraus ergab sich für ihn: Unrecht tun ist schlimmer als Unrecht erleiden.

Daran knüpft sich ein viertes Element des mit Sokrates verbundenen philosophischen Neubeginns: die Bedeutung und Bewährung philosophischer Einsichten in der Lebenspraxis. In dem mit seinem Todesurteil endenden Prozess bescheinigte Sokrates seinen Widersachern, dass sie erkennbar im Unrecht seien. Gleichwohl lehnte er anschließend die Flucht aus dem Gefängnis ab, um sich nicht seinerseits ins Unrecht zu setzen. Die philosophische Lebensweise und die Einhaltung des Grundsatzes, dass Unrecht tun schlimmer ist als Unrecht leiden, gewichtete er höher als die Möglichkeit, sein Leben zu erhalten.[7]

Lebensweg des Philosophen

Über den Werdegang des Sokrates ist für die erste Lebenshälfte kaum etwas und danach auch nur Lückenhaftes bekannt. Die biographischen Hinweise stammen im Wesentlichen aus zeitgenössischen Quellen, deren Angaben sich allerdings teilweise widersprechen. Dabei handelt es sich um die Komödie Die Wolken des Aristophanes und um Werke zweier Schüler des Sokrates: die Memorabilien (Erinnerungen an Sokrates) des Geschichtsschreibers Xenophon und Schriften des Philosophen Platon. Platons frühe Dialoge und seine Apologie des Sokrates sind die wichtigsten Quellen zu Sokrates. Unter den Nachgeborenen haben vor allem der Platon-Schüler Aristoteles und – im dritten Jahrhundert n. Chr. – der Doxograph Diogenes Laertios Hinweise beigesteuert. Darüber hinaus sind nur verstreute Notizen, Nachrichten und Anekdoten bei weiteren Autoren der griechischen und der lateinischen Literatur überliefert, darunter Cicero und Plutarch.[8] Weitere frühe Informationen findet man in anderen antiken Komödien.[9]

Herkunft, Bildung, Kriegsdienst

Laut Platon[10] war Sokrates 399 v. Chr. 70 Jahre alt, woraus sich als Geburtsjahr das Jahr 469 v. Chr. ergibt. Gut gesichert ist das Jahr seines Prozesses und Todes, 399 v. Chr. Wohl eine spätere Erfindung ist, dass sein Geburtstag der 6. Tag des Monats Thargelion war.[11] Laut Diogenes Laertios[12] stammte er aus dem athenischen Demos Alopeke der Phyle Antiochis und war Sohn des Steinmetzen oder Bildhauers Sophroniskos. Platon teilt mit, dass die Mutter des Sokrates die Hebamme Phainarete war.[13] Außerdem erwähnt Platon einen Halbbruder mütterlicherseits namens Patrokles,[14] der wahrscheinlich mit dem Patrokles von Alopeke identisch ist, der in einer Inschrift[15] auf der athenischen Akropolis aus dem Jahr 406/405 v. Chr. als Wettkampfordner der Panathenäen verzeichnet ist.[16]

Seine Ausbildung hat sich, so der deutsche Althistoriker Alexander Demandt, in den gängigen Bahnen bewegt, was neben Alphabetisierung, Gymnastik und Musikerziehung auch Geometrie, Astronomie und das Studium der Dichter, zumal Homers, einschloss. Unter seinen Lehrern waren laut Platon auch zwei Frauen, nämlich Aspasia, die Frau des Perikles, und die Seherin Diotima.[17] Auf männlicher Seite werden neben dem Naturphilosophen Anaxagoras, mit dessen Schüler Archelaos Sokrates eine Reise nach Samos unternahm,[18] der Sophist Prodikos und der den Pythagoreern nahestehende Musiktheoretiker Damon genannt.[19]

Zu einer Berufsausübung des Sokrates äußerte sich der im frühen 3. Jahrhundert n. Chr. schreibende Philosophiehistoriker Diogenes Laertios, der sich auf eine heute verlorene Quelle berief. Demnach hätte Sokrates wie sein Vater als Bildhauer gearbeitet und sogar eine Charitengruppe auf der Akropolis gestaltet.[20] In den Überlieferungen seiner Schüler ist davon aber nirgends die Rede, sodass er diese Tätigkeit zumindest frühzeitig beendet haben müsste und auch wohl kaum zur Sprache brachte.

Konkrete Daten sind mit seinen militärischen Einsätzen im Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) verbunden: Als Hoplit mit schwerer Bewaffnung nahm er an der Belagerung von Potidaia 431–429 v. Chr. sowie an den Schlachten von Delion 424 v. Chr. und Amphipolis 422 v. Chr. teil. Das lässt darauf schließen, dass er nicht unbemittelt war, denn die Kosten für ihre Ausrüstung mussten die Hopliten selbst aufbringen.

Dem Feldherrn Laches und dem eigenen Schüler Alkibiades machte Sokrates im Felde großen Eindruck durch die Art, wie er Kälte, Hunger und sonstige Entbehrungen ertrug und beim Rückzug nach der Niederlage von Delion gemessenen Schrittes und jederzeit verteidigungsbereit Besonnenheit, Entschlossenheit und Mut bewies, statt wie andere kopflos zu flüchten. Den verwundeten Alkibiades rettete er in Potidaia samt Waffen und überließ ihm dann eine Tapferkeitsauszeichnung, die ihm selbst zugestanden hätte. So wenigstens bezeugt es dieser in Platons Symposion und berichtet, wie er Sokrates in Poteidaia erlebt habe:

„Da übertraf er im Ertragen aller Beschwernisse nicht nur mich, sondern alle insgesamt. Wenn wir irgendwo abgeschnitten waren, wie es auf Feldzügen vorkommen kann, und dann fasten mussten, da konnten das die anderen lange nicht so gut aushalten. Durften wir es uns aber wohlergehen lassen, so vermochte er als einziger das zu genießen, besonders wenn er, was ihm freilich zuwider war, zum Trinken genötigt wurde; da übertraf er uns alle. Und worüber man sich am meisten wundern muss: Kein Mensch hat jemals den Sokrates betrunken gesehen.“[21]

Lehrtätigkeit

Seinen Wirkungsmittelpunkt hatte Sokrates auf dem belebten Marktplatz von Athen, wie Xenophon verdeutlichte: „So tat gerade er stets alles in voller Öffentlichkeit. Am frühen Morgen ging er nämlich nach den Säulenhallen und Turnschulen, und wenn der Markt sich füllte, war er dort zu sehen, und auch den Rest des Tages war er immer dort, wo er mit den meisten Menschen zusammensein konnte. Und er sprach meistens, und wer nur wollte, dem stand es frei, ihm zuzuhören.“[22] Die satirische Lesart dazu gab Aristophanes in seiner Komödie Die Wolken, wo Sokrates Hauptfigur ist und vom Chor so angesprochen wird:

„Du aber, du Priester des kniffligen Worts, verkünde uns jetzt dein Begehren!

Denn keinem sonst willfahrn wir so gern von allen Erhabenheitsschwätzern

Wie dem Prodikos: ihm seiner Weisheit zu lieb, seiner Einsicht; und außer ihm dir noch,

Weil du stolz in den Gassen herumflanierst und die Augen rundum lässest schweifen,

Stets barfuß und ohne Empfindlichkeit und im Glauben an uns voller Dünkel.“[23]

Schon in dieser 423 v. Chr. aufgeführten Komödie wurde Sokrates Gottlosigkeit und Verblendung der Jugend vorgehalten. Seine Gesprächspartner in den Gassen Athens und auf der Agora gehörten beiden Geschlechtern und nahezu allen Altersgruppen, Metiers und gesellschaftlichen Rängen an, die in der Attischen Demokratie vertreten waren.

Über den Charakter des sokratischen Gesprächs ließ Platon den Alkibiades sagen:

„… wenn einer des Sokrates Reden anhören will, so werden sie ihm anfangs ganz lächerlich vorkommen, in solche Worte und Redensarten sind sie äußerlich eingehüllt, wie in das Fell eines frechen Satyrs.

Denn von Lasteseln spricht er, von Schmieden, Schustern und Gerbern, und scheint immer auf dieselbe Art nur dasselbe zu sagen, so daß jeder unerfahrene und unverständige Mensch über seine Reden spotten muß. Wenn sie aber einer geöffnet sieht und inwendig hineintritt: So wird er zuerst finden, daß diese Reden allein inwendig Vernunft haben, und dann dass sie ganz göttlich sind und die schönsten Götterbilder von Tugend in sich enthalten und auf das meiste von dem oder vielmehr auf alles abzwecken, was dem, der gut und edel werden will, zu untersuchen gebührt.“[24]

Auch wenn vor allem Sokrates’ Schüler sein Fragen anscheinend so auffassen mochten, stieß seine Gesprächsführung bei anderen auf Unverständnis und Unmut:

„Sokrates, der Lehrer, tritt regelmäßig als Schüler auf. Nicht er will andere belehren, sondern von ihnen belehrt werden. Er ist der Unwissende, seine Philosophie tritt auf in der Gestalt des Nichtwissens. Umgekehrt bringt er seine Gesprächspartner in die Position des Wissenden. Das schmeichelt den meisten und provoziert sie, ihr vermeintliches Wissen auszubreiten. Erst im konsequenten Nachfragen stellt sich heraus, dass sie selbst die Unwissenden sind.“[25]

Engagierter Polisbürger

Schon lange vor der Uraufführung der Wolken muss Sokrates eine prominente Figur im Athener öffentlichen Leben gewesen sein, denn andernfalls hätte Aristophanes ihn kaum auf die genannte Art erfolgreich in Szene setzen können. Auch eine nicht datierbare Befragung des Orakels in Delphi durch den Jugendfreund Chairephon setzte eine weit über Athen hinausreichende Bekanntheit des Sokrates voraus.

In Platons Apologie schildert Sokrates den Vorgang: „Er (Chairephon) fragte also, ob es jemanden gebe, der weiser sei als ich. Da sagte Pythia, dass es keinen gebe.“ Einen Zeugen dafür benannte Sokrates in dem Bruder des verstorbenen Jugendfreunds.[26] Nach Xenophons Version lautete die Orakelauskunft, dass niemand freier oder gerechter oder besonnener sei als Sokrates. Aus diesem Orakelspruch leitete Sokrates, dem sein Nichtwissen vor Augen stand, Platon zufolge den Auftrag ab, das Wissen seiner Mitmenschen zu prüfen, um die Aussage der Gottheit zu verifizieren.

Die Historizität der Orakelbefragung wurde allerdings schon in der Antike bestritten[27] und wird auch von manchen modernen Forschern verneint. Diese halten Chairephons Frage in Delphi für eine literarische Fiktion aus dem Schülerkreis des Sokrates. Sie machen unter anderem geltend, Chairephon habe zu einem Zeitpunkt, als Sokrates noch nicht berühmt war, keinen Anlass gehabt, dem Orakel eine solche Frage zu stellen.[28] Die Befürworter der Historizität meinen, Platon habe keinen Grund gehabt, eine so detaillierte Geschichte zu erfinden und Sokrates in den Mund zu legen. Hätte dann ein Gegner sie als Fiktion entlarvt, was damals leicht möglich gewesen wäre, so hätte dies die Glaubwürdigkeit von Platons gesamter Darstellung der Verteidigungsrede des Sokrates vor Gericht erschüttert.[29]

Im Gegensatz zu den Sophisten ließ sich Sokrates nicht für seine Lehrtätigkeit bezahlen. Er bezeichnete sich bewusst als Philosoph („Weisheitsfreund“). Sein Philosophieren, das oft mitten im geschäftigen Treiben Athens stattfand, könnte zur Beantwortung der Frage beitragen, wie Athen sich als „Schule von Hellas“ behaupten und die individuelle Entfaltung der jeweiligen Fähigkeiten und Tugenden der Bürger fördern konnte.[30]

Insbesondere ambitionierte Nachwuchspolitiker prüfte Sokrates mittels seiner Frage-Methodik gerne, um ihnen zu verdeutlichen, wie weit sie noch davon entfernt waren, die Belange der Polis kompetent vertreten zu können. Dies tat er nach dem Zeugnis Xenophons in wohlwollender Absicht auch bei Platons Bruder Glaukon, der sich weder in den Staatsfinanzen noch bei der Einschätzung militärischer Kräfteverhältnisse noch in Angelegenheiten der inneren Sicherheit Athens als sattelfest erwies. Sokrates folgerte: „Sei vorsichtig Glaukon, dein Streben nach Ruhm könnte sonst ins Gegenteil umschlagen! Merkst du nicht, wie leichtsinnig es ist, etwas zu tun oder zu reden, wovon man nichts versteht? […] Wenn du im Staate Hochachtung und Ruhm genießen möchtest, dann erarbeite dir zuallererst die Kenntnisse, welche du für die Aufgaben brauchst, die du lösen willst!“[31] Auf Dauer machte sich Sokrates mit seinen verbalen Untersuchungen, dem vielfältigen Infragestellen, Zweifeln und Nachforschen sowohl Freunde als auch Feinde: Freunde, die seine Philosophie als Schlüssel zur eigenen und gemeinschaftlichen Wohlfahrt und Weisheit ansahen, und Feinde, die sein Wirken als Gotteslästerung und gemeinschaftsschädigend einschätzten.

Gelegentlich verstand sich Sokrates auch auf konkrete Politikberatung. So berichtete Xenophon in seinen Erinnerungen über einen Dialog zwischen Sokrates und Perikles, dem gleichnamigen Sohn des 429 v. Chr. verstorbenen Staatsmannes Perikles, in dem es um Möglichkeiten ging, Athens im Verlauf des Peloponnesischen Krieges geschwundene äußere Machtstellung in Griechenland zurückzugewinnen. Nach einer ganzen Reihe allgemeiner Erwägungen entwickelte Sokrates dem als militärisch befähigt eingeschätzten Perikles zuletzt den Vorschlag, das in Richtung Böotien Attika vorgelagerte Gebirge zu besetzen. Den ihm in der Sache Zustimmenden ermunterte er: „Wenn dir der Plan gefällt, so führe ihn aus! Alle Erfolge, die du damit erringst, werden dir Ruhm und der Stadt Vorteile bringen; gelingt dir aber etwas dabei nicht, so wirkt es sich für die Allgemeinheit nicht schädlich aus und macht auch dir selber keine Schande.“[32]

416 v. Chr. erschien Sokrates als Ehrengast auf dem berühmten Symposion, das anlässlich des Tragödiensieges des jungen Agathon stattfand und an dem in der platonischen Überlieferung auch Aristophanes und Alkibiades in wichtiger Rolle teilnahmen. Das nächste biographisch datierbare Ereignis fand zehn Jahre später statt und betraf Sokrates’ Verwicklung in die Reaktion der Athener auf die Seeschlacht bei den Arginusen, wo die Bergung Schiffbrüchiger unter Sturm fehlgeschlagen war. Als Gerichtshof in dem Prozess gegen die Strategen, die die Militäroperation geleitet hatten, fungierte die Volksversammlung. Zu dem geschäftsführenden Ausschuss des Rates der 500, den 50 Prytanen, gehörte zu diesem Zeitpunkt auch Sokrates. Zunächst schien es, als könnten die Strategen ihre Unschuld nachweisen und freigesprochen werden. Am zweiten Verhandlungstag aber änderte sich die Stimmung, und es kam zu der Forderung, die Strategen gemeinsam schuldig zu sprechen. Die Prytanen wollten den Antrag für ungesetzlich erklären, denn nur Einzelverfahren waren zulässig. Da sich nun aber das Volk im Vollgefühl seiner Souveränität gar nichts untersagen lassen wollte und den Prytanen die Mitverurteilung angedroht wurde, gaben alle bis auf Sokrates nach.

Eine ganz ähnliche Haltung bewies Sokrates nach Platons Zeugnis noch einmal 404/403 v. Chr. unter der Willkürherrschaft der Dreißig, als er den Befehl der Oligarchen verweigerte, mit vier anderen gemeinsam die Verhaftung eines für unschuldig erachteten Gegners der Herrschenden durchzuführen. Er ging stattdessen einfach nach Hause, wohl wissend, dass es sein Leben kosten könnte: „Damals bewies ich wahrlich wieder nicht durch Worte, sondern durch die Tat, daß mich der Tod, wenn es nicht zu grob klingt, auch nicht so viel kümmert, daß mir aber alles daran liegt, nichts Unrechtes und Unfrommes zu tun.“[33]

Eine deutliche Bevorzugung eines bestimmten Verfassungstyps oder die Ablehnung von Organisationsstrukturen der Attischen Demokratie, die seinen Wirkungsrahmen bildete, ist bei Sokrates – anders als bei Platon – nicht erkennbar. Ekkehard Martens sieht in Sokrates eher einen Förderer der Demokratie: „Mit seiner Forderung nach kritischer Wahrheitssuche und Orientierung an der Gerechtigkeit kann Sokrates als ein Begründer der Demokratie gelten. Dies schließt eine Kritik an bestimmten demokratischen Praktiken nach ihren Kriterien nicht aus. Dabei ist allerdings Sokrates’ Kritik in Platons Staat (8. Buch) nicht unbesehen dem historischen Sokrates selber zuzuschreiben, sondern man muß sie als Platons Auffassung verstehen. Allerdings hat auch Sokrates das Prinzip der Sachentscheidung über das der Mehrheitsentscheidung gestellt (Laches 184e), ein bis heute nicht überwundener Konflikt jeder Demokratie.“[34] Ihm kam es vor allem darauf an, ein jeder Regierungsform übergeordnetes Recht zu wahren und darin seinen Mitbürgern Vorbild zu sein. Klaus Döring schreibt dazu: „Was den Umgang mit den jeweils Regierenden und den Institutionen der Polis anbetraf, plädierte er für Loyalität, solange man nicht gezwungen werde, Unrecht zu tun, also genau so zu verfahren, wie er selbst es machte. Wie jeder wußte, hatte er selbst einerseits seine Bürgerpflichten peinlich genau erfüllt, sich andererseits aber auch in prekären Situationen nicht davon abbringen lassen, nie etwas anderes zu tun als das, was sich ihm nach gewissenhafter Prüfung als das Gerechte erwies.“[35]

Prozess und Tod

Für den Prozess gegen Sokrates kommt ein vielfältiges Motivgeflecht in Frage. Anklagen wegen Gottlosigkeit, sogenannte Asebie-Prozesse, waren bereits vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges betrieben worden. Damals hatten sie Persönlichkeiten im Umfeld des leitenden Staatsmannes Perikles gegolten, der die Entwicklung der Attischen Demokratie vorangetrieben hatte und repräsentierte. So waren in den 430er Jahren v. Chr. Perikles’ Gattin Aspasia, der mit der Ausgestaltung der Akropolis beauftragte Phidias und der Philosoph Anaxagoras unter Asebie-Anklage gestellt worden.[36]

Aristophanes hatte Sokrates in seiner Komödie Die Wolken nicht nur als vermeintlichen Sophisten karikiert, sondern seinen Umgang mit Begriffen auch als gefährliche Wortverdreherei kritisiert.[37] Zusätzliche Ressentiments könnte Sokrates durch das mitbürger- und demokratiefeindliche Verhalten zweier seiner Schüler auf sich gezogen haben: Alkibiades hatte während und nach der Sizilischen Expedition wiederholt die Seiten gewechselt, und Kritias gehörte als Anführer zu jenen Dreißig, die 404/403 v. Chr. mit massiver Unterstützung Spartas eine oligarchische Gewaltherrschaft errichtet hatten. Die Fehlentwicklung, die Kritias und Alkibiades schließlich genommen haben, ist jedoch nach Xenophon nicht wegen, sondern trotz des Umgangs mit Sokrates eingetreten. Daraus folgerte Xenophon, dass jede erzieherische Einwirkung eine Sympathiebeziehung voraussetze: „Kritias und Alkibiades traten aber nicht mit Sokrates in Verbindung, weil er ihnen sympathisch war, sondern weil sie es sich von vornherein zum Ziel gesetzt hatten, an die Spitze des Staates zu treten […].“ Beide hätten, nachdem sie auf der Grundlage sokratischer Gesprächsführung gegenüber Politikern einige Überheblichkeit entwickelt hatten, den Kontakt zu Sokrates gemieden, um sich nicht von ihm ihrer Fehler überführen zu lassen. Von den übrigen Sokrates-Schülern sei keiner auf eine schlechte Bahn geraten, betonte Xenophon.[38]

Von dem Prozess des Sokrates 399 v. Chr. berichten – zum Teil nicht übereinstimmend – sowohl Platon als auch Xenophon. Beide Autoren lassen Sokrates sich im Sinne ihrer jeweils eigenen Ziele äußern. Xenophon betont Sokrates’ konventionelle Frömmigkeit und Tugend, während Platon ihn als ein Muster des philosophischen Lebens zeigt.[39] Die Darstellung Platons, der als Prozessbeobachter die Beiträge des Sokrates in der Apologie ausführlich wiedergegeben hat, wird überwiegend als die authentischere angesehen. Für die Umstände der Hinrichtung liegen nur Angaben aus zweiter Hand vor, denn keiner der beiden Berichterstatter war Augenzeuge. Hauptsächlich um Prozess und Tod des Sokrates geht es auch in Platons Dialogen Kriton und Phaidon.

Der Apologie zufolge agierte Sokrates vor Gericht ganz so, wie man ihn im öffentlichen Leben Athens schon über Jahrzehnte kannte: als peinlich Untersuchender, Nachfragender und die Forschungsergebnisse schonungslos Offenbarender. Den ersten und mit Abstand längsten Beitrag stellte seine Rechtfertigung gegenüber den Anklagen dar. Auf den Vorwurf, er verderbe die Jugend, reagierte er mit einer gründlichen Bloßstellung des Anklägers Meletos, in die er auch die Geschworenen und schließlich alle Bürger Athens verwickelte, als er Meletos mit der Frage in die Enge trieb, wer denn nun seiner Vorstellung nach für die Besserung der Jugend sorge, und dann sein Fazit zog: „Du aber, Meletos, beweist hinlänglich, dass du dir noch niemals Gedanken um die Jugend gemacht hast, und sichtbar stellst du deine Gleichgültigkeit zur Schau, dass du dich um nichts von den Dingen bekümmert hast, derentwegen du mich vor Gericht ziehst.“[40]

Auch die Anklage wegen Gottlosigkeit wies er zurück. Er gehorche stets seinem Daimonion, das er als göttliche Stimme vorstellte, die ihn gelegentlich vor bestimmten Handlungen warne. Den Geschworenen legte er dar, dass er sich keinesfalls darauf einlassen werde, freizukommen mit der Auflage, sein öffentliches Philosophieren einzustellen: „Wenn ihr mich also auf eine so abgefasste Bedingung freilassen wolltet, so würde ich antworten: ich schätze euch, Männer Athens, und liebe euch, gehorchen aber werde ich mehr dem Gotte als euch, und solange ich atme und Kraft habe, werde ich nicht ablassen zu philosophieren und euch zu befeuern …“[41]

In der Rolle des Angeklagten präsentierte er sich als Verteidiger von Recht und Gesetzlichkeit, indem er es ablehnte, die Geschworenen durch Mitleidsappelle und Bitten zu beeinflussen: „Denn nicht dazu nimmt der Richter seinen Sitz ein, das Recht nach Wohlwollen zu verschenken, sondern um das Urteil zu finden, und er hat geschworen – nicht gefällig zu sein, wenn er gerade will, sondern – Recht zu sprechen nach den Gesetzen.“[42]

Mit knapper Stimmenmehrheit (281 von 501 Stimmen) wurde er von einem der zahlreichen Gerichtshöfe der Attischen Demokratie für schuldig befunden. Nach damaligem Prozessverfahren durfte Sokrates nach der Schuldigsprechung eine Strafe für sich selbst vorschlagen. In seiner zweiten Rede bestand Sokrates darauf, seinen Mitbürgern durch die praktische philosophische Unterweisung nur Gutes getan zu haben und dafür nicht etwa die beantragte Todesstrafe, sondern die Speisung im Prytaneion zu verdienen, wie sie Olympiasieger erhielten. Angesichts des Schuldspruchs erwog er dann verschiedene mögliche Strategien, hielt aber letztlich allenfalls eine Geldstrafe für akzeptabel. Hiernach verurteilten ihn die Geschworenen nun mit einer Mehrheit, die noch einmal um 80 auf 361 Stimmen anwuchs, zum Tode.[43]

In dem ihm zustehenden Schlusswort betonte Sokrates noch einmal die Ungerechtigkeit der Verurteilung und beschuldigte die Ankläger der Bosheit, nahm das Urteil aber ausdrücklich an und äußerte nach Platons Überlieferung: „Vielleicht musste dies alles so kommen, und ich glaube, es ist die rechte Fügung.“[44] Diejenigen Geschworenen, die ihn hatten freisprechen wollen, suchte er mit Ausführungen über die wenig schrecklichen Folgen des Todes zu beruhigen. Er bat sie, für die Aufklärung seiner Söhne auf die Weise zu sorgen, die er selbst den Athenern gegenüber praktiziert hatte: „Aber schon ist es Zeit, dass wir gehen – ich um zu sterben, ihr um zu leben: wer aber von uns den besseren Weg beschreitet, das weiß niemand, es sei denn der Gott.“[45]

Darauf beharrte Sokrates auch den Freunden gegenüber, die ihn im Gefängnis besuchten und zur Flucht überreden wollten. Gelegenheit dazu ergab sich dadurch, dass die Hinrichtung, die normalerweise zeitnah zur Verurteilung geschah, in diesem Fall aufgeschoben werden musste. Während der jährlichen Gesandtschaft zur heiligen Insel Delos, die zu dieser Zeit stattfand, durften aus Gründen ritueller Reinheit keine Hinrichtungen vorgenommen werden.[46]

An Sokrates’ letztem Tag versammelten sich die Freunde, unter denen Platon krankheitshalber fehlte, im Gefängnis.[47] Dort trafen sie Xanthippe, die Frau des Sokrates, mit den drei Söhnen an. Zwei der Söhne waren noch im Kindesalter, somit muss Xanthippe weit jünger gewesen sein als ihr Mann. Sokrates ließ die laut wehklagende Xanthippe wegführen, um sich im Gespräch mit den Freunden auf den Tod vorzubereiten. Seine Weigerung zu fliehen begründete er mit dem Respekt vor den Gesetzen. Würden Urteile nicht befolgt, verlören Gesetze überhaupt ihre Kraft.[48] Schlechte Gesetze müsse man ändern, aber nicht mutwillig übertreten. Das Recht der freien Rede in der Volksversammlung biete die Chance, von Verbesserungsvorschlägen zu überzeugen. Notfalls könne, wer das vorziehe, ins Exil gehen. Den schließlich gereichten Schierlingsbecher leerte Sokrates der Überlieferung zufolge vollständig gefasst. In seinen letzten Worten bat er darum, dem Gott der Heilkunst Asklepios einen Hahn zu opfern. Der Anlass dieser Bitte ist nicht überliefert, ihr Sinn ist in der Forschung umstritten. Alexander Demandt meint, Sokrates habe damit ausdrücken wollen, er sei nun vom Leben geheilt, der Tod sei die große Gesundheit.[49]


Text: Wikipedia

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